Schneeschmelze

In: Entwürfe – Zeitschrift für Literatur.
Ausgabe 55/08: «Wetter»

Leseprobe

Mit Gewalt war die Hitze über das Tal gekommen, und innert einer Woche hatte sich der Schnee erweichen lassen. Noch waren die letzten Spuren nicht ausgelöscht in den schattseitigen Rinnen, schon richteten sich alle Augen auf die Weiden hinter der Kirche und die Matten, die steil hinaufführten zum Grossberg. Wie auf Befehl und mit ungeahnter Entschlossenheit strebte die Natur zu schönster Blüte. Krokusse und Soldanellen taten sich hervor, Löwenzahn und Margeritten trieben steil aus dem Boden, und alsbald streckten auch Ahorn, Buchen und Linden ihre Blätter der Sonne entgegen, deren Licht dem Dietrich Josef von Anfang an kräftiger erschienen war als in früheren Jahren. So schnell kann das gehen dieser Tage, dachte er, da liegen die Felder dick unter Schnee begraben, bis weit in den April hinein, da ist alles Leben erstarrt, sind Wasserleitungen zu Eis gefroren, selbst Weinflaschen in den grossen Kellern geborsten, und dann genügen ein paar warmwindige Tage und laue Nächte, um alles zu verwandeln.

Der Hinterste und Letzte im Dorf hatte den Wetterumschwung herbeigesehnt. Als dann aber die milde Luft die Menschen auf die Strassen trieb, hielt sich Dietrich abseits. Der hagere Mann mied das laute Reden, das übermütige Johlen, das die Strassen erfüllte. Unbeweglich stand er an seinem Fenster, den Blick auf den grossen Platz gerichtet, auf den immer mehr Menschen strömten. Er verübelte es den Leuten nicht, dass sie ihn um seine Nachtruhe brachten. Über Wochen und Monate hinweg hatten sich alle eingeschlossen gehabt in ihren Häusern, durch die es die Kälte trieb und mit ihr Schneekristalle, die noch lange liegen blieben auf den Bretterbalken der Flure. Die Zimmer waren durch kein Feuer mehr zu erwärmen, sogar in den Betten fror es die Leute, weshalb die Stube nur noch verliess, wer unbedingt Nahrung herbeischaffen musste oder etwas Brennbares. …