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Crowdfunding

Eine freundliche Nötigung

NZZ Folio, September 2013

Künstler lassen sich ein Projekt finanzieren, Kranke eine medizinische Massnahme, ­Firmengründer ihr Start-up. Crowdfunding ist der neue Weg, sich über das Internet Geld zu beschaffen.

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© Davide Zamberlan

Der letzte Betrag wurde 13 Minuten vor Ablauf der Zeit überwiesen. «Die Kunst dankt», postete Heinrich Gartentor daraufhin. Anderthalb Monate zuvor hatte der Berner Künstler begonnen, Geld für eine von ihm kuratierte Ausstellung zu sammeln. 100 Minuten vor Schluss fehlten noch 440 der benötigten 4000 Euro. Damit das Projekt über die Ziellinie kam, brauchte es einige Hilferufe Gartentors auf Facebook. Und einen kleinen Trick: Unter einem Pseudonym überwies seine Frau Geld, das mündlich zugesagt worden war.

13 Minuten – bezogen auf die Laufzeit von 45 Tagen von Gartentors Spendenaufruf entspricht dies 3 Hundertstelsekunden im Lauberhornrennen. Dass der Ausgang beim Crowdfunding spannend sein kann wie im Skiweltcup, rührt daher, dass es auch hier ums Gewinnen geht. Alles oder nichts, heisst der Grundsatz dieser noch jungen Form der Kapitalbeschaffung übers Internet. Erreicht ein Projekt nicht den ganzen Betrag, gehen die Initianten leer aus, die Geldgeber erhalten ihren Einsatz zurück.

Gartentor hätte die Ausstellung «Mannheim–Solothurn» auch ohne das Geld durchgeführt, das er crowdgefundet hat. Beziehungsweise gecrowdfundet – noch hat sich keines der beiden Partizipien des Anglizismus des Jahres durchgesetzt. Den Grossteil des Geldes, mit dem Gartentor zehn unbekannte Künstler aus den beiden Orten im Kunstmuseum Solothurn zeigen kann (noch bis Mitte November), bestreiten bewährte Institutionen. Trotzdem ist für ihn die Finanzierung übers Internet wichtig. «Wenn es knapp wird, habe ich einen Joker. Das macht mich weniger abhängig von Förderstellen.»

Wenn es denn gelingt. Beim ersten Anlauf, das Budget für die Ausstellung aufzubessern, erreichte er gerade einmal einen Viertel der anvisierten Summe. Dabei ist Heinrich Gartentor kein Unbekannter. Vor ein paar Jahren liess sich der heute 47jährige, der eigentlich Martin Lüthi heisst, über das Internet zum ersten «Kulturminister der Schweiz» wählen, ausserdem sorgt er regelmässig mit Aktionen wie «Dünner» für Aufmerksamkeit, als er ein paar Kilos, die er sich angefressen hatte, über Ebay versteigerte. Er kann sich damit trösten, dass schon andere namhafte Kulturschaffende leer ausgegangen sind, der Filmproduzent Samir ebenso wie der Magnum-Fotograf Fred Mayer.

Solche Schlappen sind nicht die Regel. Zwei von drei Projekten, die auf Wemakeit.ch aufgeschaltet werden, erreichen ihr Ziel. Seit die Plattform vor anderthalb Jahren startete, sind 2,7 Millionen Franken für über 250 Bücher, Theateraufführungen, für Musik- und Designprojekte zusammengekommen. Ob sich die im internationalen Vergleich hohe Erfolgsquote halten lässt, wird sich zeigen.

Crowdfunding ist ein neues Wort für eine alte Idee. Im Kulturbetrieb, sagt Johannes Gees, selbst Künstler und Mitbegründer von Wemakeit.ch, habe man schon immer das eigene Netzwerk mobilisiert, um Projekte zu finanzieren. «Was neu ist, sind die modernen Tools.» Das heisst, über das Internet mit der ganzen Welt verbunden zu sein und – theoretisch – eine enorme Zahl von Geldgebern zu finden. Hilfreich dabei sind automatisch generierte Nachrichten, die die Initianten je nach Finanzierungsgrad und verbleibender Zeit dazu auffordern, Freunde und Bekannte zum Spenden zu bewegen oder mit zusätzlichen Informationen zu versorgen. «Wer zu Geld kommen will», sagt Gees, «muss etwas dafür tun.»

Heinrich Gartentor ist das nicht leichtgefallen. «In einer E-Mail zu schreiben, bitte helft mir, ich brauche Geld, das braucht Überwindung. Auch wenn es ein Kunstprojekt ist, geht es letztlich doch um mich.» Eigentlich sei das eine Form von Nötigung. Jedenfalls beugten sich 21 Personen dem Druck. Die Hälfte davon kannte er, darunter auch Kulturprominente wie Pius Knüsel, ehemaliger Pro-Helvetia-Direktor, oder Jean-Pierre Hoby, früher Kulturchef der Stadt Zürich. Diese Informationen sind für alle zugänglich. Die neue Welt ist transparent.

Wer will, kann auch anonym spenden. Doch dann entgeht ihm die Belohnung, die Vorpremiere des Films, die Plattentaufe oder das signierte Buch. Bei vielen Projekten kein unerheblicher Anreiz, Geld zu geben. Bei Gartentor werden die Spender für 15 Euro mit Namen und Wohnort im Katalog erwähnt, für 50 Euro gab es den Katalog dazu und ab 100 Euro einen Siebdruck vom Kunstmuseum Solothurn bei Schneefall. «Finanzedition» nennt Gartentor diese Arbeiten. Für ihn eine Art Geldmaschine: «Die Leute wollen eine Gegenleistung, und ich kann sie bieten, in guter Papierqualität. Ich drucke sozusagen mein eigenes Geld.»

Spenden für einen Epilepsiehund

«Schon nach dem ersten Tag», sagt Evelyn Nielsen, «hatten wir die anvisierte Summe von 3000 Franken erreicht.» Noch exakt 99 Tage blieb das Projekt auf 100-days.net aufgeschaltet – der Name der Plattform ist Programm. Das war erfreulich und etwas ärgerlich zugleich. «Vielleicht, dachte ich, hätten wir den Betrag höher ansetzen sollen, als uns von 100-days.net geraten wurde.» Denn die Familie Nielsen benötigt mehr Geld. 15 000 Franken. So viel müssen sie für den Labrador-Retriever aufbringen. Kein gewöhnliches Haustier, sondern ein Epilepsiehund. Nielsens dreijähriger Sohn leidet am Dravet-Syndrom, einer schweren, unheilbaren Form von Epilepsie. Nikolaj kann nicht unbeaufsichtigt sein, er könnte, bliebe ein Anfall unentdeckt, ersticken oder bleibende Hirnschäden davontragen. In den Kosten für den Hund ist die zweijährige Ausbildung eingeschlossen, die das Tier befähigt, mit seinem Geruchssinn die ersten Anzeichen eines Anfalls zu bemerken und Hilfe zu holen oder den Anfall sogar zu stoppen.

Ein Dreivierteljahr später liegt Kalle vor dem Kinderzimmer. Auf das Kommando «Test» würde der Hund nachschauen, ob Nikolaj normal schläft. Jede Viertelstunde geht auch die Mutter kurz ins Zimmer. «Ich bin etwas übervorsichtig», sagt sie. Wobei ihre Sorge nicht unbegründet ist: «Im ersten Jahr war Nikolaj 158 Tage im Spital, im zweiten 169, in diesem sind es bisher 60 Tage.»

Der Hund hat bereits grosse Verbesserungen gebracht, aber noch immer bleibt bei einer Infektion meist nur die Fahrt ins Spital. Schon ein geringer Anstieg der Körpertemperatur kann einen schweren Anfall auslösen. Um die Ansteckungsgefahr klein zu halten, hat Nikolaj wenig Kontakt zu anderen Kindern. Den Platz in der Kinderkrippe musste die Mutter wieder aufgeben.

Die unheilbare Krankheit eines Kindes ist ein starker Appell. Wer kann Nein sagen, erst recht, wenn er die betroffene Familie kennt? Andere Plattformen sind restriktiver bei sozialen Projekten, doch auf 100-days.net soll jeder selbst entscheiden können, ob er Geld geben will. Wobei es schon ein paar Ausschlusskriterien gibt: Die Projekte dürfen weder pornographisch noch rassistisch sein und nicht als Darlehensgesuche oder Glücksspiele missbraucht werden.

Das Mitgefühl allein erklärt Nielsens Erfolg nicht. Nötig ist auch ein gutes Netzwerk, in ihrem Fall eine Facebook-Gruppe, auf der sich etwa 400 Mütter austauschen, dazu rund 2500 eigene Facebook-Freunde. Sie hat lange als Model gearbeitet und einige Leute kennengelernt. «Viele meiner Freunde hatten schon vorher von Nikolajs Krankheit gewusst. Als ich das Projekt aufschaltete, waren sie erleichtert, dass sie helfen konnten.»

Dass weder Krankenkasse noch Invalidenversicherung sich an den Kosten für den Epilepsiehund beteiligen, kann Evelyn Nielsen inzwischen verschmerzen. Bis zum Ablauf der Internetkampagne kamen 10 929 Franken zusammen, dreimal mehr als angepeilt. Und auch danach trafen Spenden ein. Die Beträge reichten von 15 bis 1000 Franken, im Schnitt waren es knapp 100 Franken. «Ich war erstaunt, wie grosszügig jene waren, die selbst sehr genau rechnen müssen», sagt Nielsen. Auf 100-days.net ist stets die gespendete Summe aufgeführt – auch eine Art, Freundschaften zu checken. Ein Viertel spendete anonym, bei ihnen war der Betrag halb so hoch.

Eine Belohnung hat Evelyn Nielsen den Spendern nicht versprochen. Dafür berichtet sie auf ihrer Homepage ausführlich über Fortschritte und Rückschläge ihres Sohnes und lädt Bilder von den Ferien und vom Aufenthalt in der Epilepsieklinik in Zürich hoch. Und sie hat die über 100 Spender zu einem Sommerfest zu sich eingeladen. «Das Fleisch zum Grillieren brachten die Gäste selbst mit, wir brauchen das gespendete Geld ja für den Hund.»

Satte Renditen mit Computerspielen

Sich in dieser Form erkenntlich zeigen muss Basil Weber nicht. Wer den 29jährigen ETH-Absolventen und sein Team dabei unterstützt, das Computerspiel «Train Fever» zu entwickeln, kann etwas verdienen. 77 Prozent beträgt die Rendite, ein Einsatz von 100 Franken wächst auf 177 Franken. Das steht zumindest im Businessplan der Schaffhauser Firma Urban Games. Damit dies gelingt, müssen 65 000 Kopien des Eisenbahn-Simulationsspiels verkauft werden. Die Hälfte des Umsatzes wird an die Geldgeber fliessen. Das könne mehr sein als geplant, sagt Weber, aber auch weniger. Und kommt das Spiel gar nicht auf den Markt, gehen die Geldgeber leer aus.

250 000 Euro haben die Männer gesammelt, Computergrafiker, Mathematiker, Designer, Künstler. Davon mussten sie 5 Prozent an Gambitious.com abliefern, worin sich die auf Computerspiele spezialisierte Plattform nicht von den obenerwähnten unterscheidet. In anderen Dingen hingegen schon. So verdienen die Computercracks aus Schaffhausen schon während der Entwicklung gutes Geld. Knapp die Hälfte der beschafften Summe geht an Basil Weber und seinen Bruder, die als Einzige ausschliesslich für das Projekt arbeiten. Dass sich die beiden monatlich je 5000 Euro auszahlen, sorgte während der Finanzierung für kritische Fragen. Der Hinweis auf die Lebenshaltungskosten in der Schweiz und darauf, dass über die letzten Jahre schon viel Zeit in das Projekt investiert worden war, überzeugte den Fragesteller nicht. Er investierte kein Geld.

Dafür beteiligten sich andere – insgesamt 651 Personen. Der erste von ihnen war Basil Weber. Damit das Projekt freigeschaltet wurde, musste er den Minimalbetrag von 20 Euro einzahlen. «Das sollte wohl zeigen, dass wir es ernst meinten.» Auf vielen Plattformen ist es gerade umgekehrt, dort ist es ausgeschlossen, dass die Initianten selbst etwas einzahlen, um etwa den fehlenden Betrag am Ende zu begleichen. Gebracht hat der Anschub wenig. «Zu Beginn zahlten ein paar Freunde etwas ein, aber sonst ging über Monate fast nichts.» Wenig Wirkung zeigten auch schön gemachte Videos, auf denen man sieht, wie sich einzelne Eisenbahnlinien bauen und ganze Wirtschaftsregionen entwickeln lassen. Die Spieler agieren wie die Bahnpioniere aus der Gründerzeit, gestalten nebenbei Stadt und Land um und spielen sich durch die Eisenbahngeschichte.

Ohne fremde Hilfe hätten es die Programmierer nicht geschafft. Fünf Wochen vor Ablauf der sechsmonatigen Finanzierungsdauer – erst ein Zehntel des Geldes war zusammengekommen – erschien im Fachmagazin «PCtipp» ein Artikel über das Simulationsspiel, zwei Wochen darauf einer auf «20min.ch». Zudem wurde die Laufzeit um einen Monat verlängert – denn auch die neu gestartete Plattform Gambitious.com wollte den Erfolg. «Train Fever» war das erste Projekt mit reellen Chancen, das benötigte Kapital aufzutreiben.

Die Geschäftsidee, samt Finanz- und Liquiditätsplan für alle einsehbar, wäre einfach zu kopieren. Doch das kümmert Weber nicht. Zentral, sagt er, sei die Umsetzung. «Alle sollen unser Projekt kommentieren können.» Ob die vielen Anregungen letztlich ins Spiel einfliessen, wird sich zeigen. Hauptsache, das Spiel erscheint wie geplant nächsten Sommer.

Ein paar Fragen bleiben. Wie geht man mit Geldgebern um, die über den ganzen Globus verteilt sind? Und wie lässt sich verhindern, dass die Gewinne nur beim Softwareunternehmen zu versteuern sind, nicht aber bei der Investorengemeinschaft? Weber lässt sich von einem Steueranwalt beraten und ist im Kontakt mit dem Steueramt von Schaffhausen. Doch die Vielzahl der Geldgeber hat auch Vorteile. «Ein einzelner grosser Investor würde viel mehr Einfluss ausüben», sagt Weber.

Crowdfunding macht relativ unabhängig. Auch gegenüber der traditionellen Finanzierung von Computerspielen durch einen Verlag, der das Spiel vertreibt. In der Branche sind Knebelverträge üblich. Bis zu 95 Prozent der Einnahmen haben die Entwickler abzuliefern, gleichzeitig sind sie verpflichtet, weitere Spiele, die sie programmieren, dem gleichen Verlag anzubieten. Dank der Viertelmillion konnte Basil Weber die Bedingungen für die Zusammenarbeit mit den Spielverlagen bestimmen.

Die Aussicht, sich von bisherigen Kreditgebern zu befreien, lässt immer neue Plattformen entstehen. Sportler können sich über ein eigenes Portal einen Trainer finanzieren lassen, Studierende die Ausbildung, Journalisten eine Recherche, Wissenschafter ein Forschungsprojekt. In diesem Jahr, schätzt das Beratungsunternehmen Deloitte, werden weltweit 3 Milliarden Dollar über Crowdfunding-Portale beschafft, doppelt so viel wie noch vor zwei Jahren. Und das Potential ist gross, entsprechen diese Beträge doch erst einem Bruchteil der Summe, die in die traditionelle Kulturförderung, in Unternehmensfinanzierungen oder wohltätige Spenden fliesst.

Wer einen Früchteautomaten aufstellen, neue Jasskarten entwerfen oder eine Schere-Stein-Papier-Meisterschaft durchführen will, wäre ohnehin durch das Raster von Förderinstanzen gefallen. Beim Crowdfunding hat’s geklappt, hier entscheidet keine Kreditkommission, was Unterstützung verdient und was nicht. Das bestimmen allein die Nutzer. Was nicht heisst, dass in dieser Basisdemokratie das Geld gleichmässig verteilt wird. Bei Kickstarter.com, mit bisher beschafften 600 Millionen Dollar die weltweit erfolgreichste Plattform, haben 10 Prozent der erfolgreichen Projekte zwei Drittel aller zugesagten Mittel erhalten. Das erfolgreichste Prozent heimste über einen Drittel der ganzen Summe ein.