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NZZ Folio Ärzte

Drogen? – Ja, bitte!

NZZ Folio, Juni 2010

Der sowjetische Arzt Leonid Iwanowitsch Rogosow regis­trierte Anzeichen von Übelkeit, Fieber sowie Schmerzen im rechten Unterleib, die Symptome einer akuten Blinddarmentzündung. Pech, dass er die Diagnose auf einer Station in der Antarktis stellen musste: Der Polarwinter hatte eben begonnen, das Meer war zugefroren, das Versorgungsschiff würde erst in einigen Monaten zurückkehren. Noch grösseres Pech: Rogosow selber war der Patient. Sein Blinddarm drohte am Ende der Welt zu platzen, und er war der einzige Arzt in der zwölfköpfigen Forschungscrew. So kam es, dass er, assistiert von einem Meteorologen und einem Mechaniker, die eigene Bauchdecke öffnete und sich an seinen Eingeweiden zu schaffen machte.

Leonid Rogosows Selbstopera­tion, vor bald fünfzig Jahren erfolgreich ausgeführt, zeigt zwei Dinge: Die Kenntnis der ars medicina, der Heilkunst, bewahrt Ärzte nicht davor, krank zu werden. Doch wenn etwas geschieht, dann wissen sie sich zu helfen.

Dass Ärzte in eigener Sache zum Skalpell greifen, ist die Ausnahme. Im Normalfall halten sie sich an Medikamente. Reden sie über ihren Tablettenkonsum, klingt das harmlos. Natürlich, sagen sie, behandle man sich bis zu einem gewissen Punkt selber. Das heisst zum Beispiel: Ritalin zur Konzentrationssteigerung, Ponstan, wenn der Kopf dröhnt. Und nach einer heftigen Party begnügen sich manche nicht mit Alka-Seltzer, sondern stecken sich eine Infusion.

Ein lockerer Umgang mit Medikamenten und Drogen hat unter Ärzten Tradition. Berühmt sind Sigmund Freuds Selbstversuche mit Kokain. «Ich nehme es regelmässig gegen Verstimmungen und gegen Druck im Magen mit dem glänzendsten Erfolg in sehr kleinen Dosen», schrieb er 1884 an seine Verlobte. Schon hundert Jahre zuvor hatte der Berner Arzt und Naturforscher Albrecht von Haller seine Blasenbeschwerden mit Opium-Klistieren zu lindern versucht. Beide, Freud und Haller, sind süchtig geworden.

Wie stark Medikamentenmissbrauch unter Ärzten verbreitet ist, hat 2002 eine grossangelegte Studie unter Schweizer Hausärzten gezeigt. Zwei Drittel der Befragten hatten in der vorangehenden Woche ein Medikament eingenommen; im Schnitt der Bevölkerung sind es bloss 40 Prozent. Vor allem Schmerzmittel, Beruhigungsmittel und Antidepressiva verwenden die Mediziner häufiger. Die Untersuchung zeigte auch, dass die meisten Ärzte darauf verzichten, einen anderen Arzt aufzusuchen: Neun von zehn der Befragten verschreiben sich die Pillen selbst. Nur einer von fünf hat einen Hausarzt, verglichen mit 90 Prozent der Durchschnittsschweizer.

Ärzte kommen einfach zu Tabletten. Mit dem Arztausweis lassen sich rezeptpflichtige Arzneien in der Apotheke besorgen, im Spital wie in der eigenen Praxis genügt ein Griff in den Medikamentenschrank. Auch an starke Opiate, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, gelangen Mediziner. Wobei sie leicht in die Illegalität abrutschen, Dokumente fälschen, Rezepte auf den Namen verstorbener Patienten ausstellen.

Der Weg in die Sucht ist vorgezeichnet. «Meist geht es schleichend vor sich», sagt Beat Künzi, einer der Autoren der Schweizer Ärztestudie, selbst praktizierender Arzt und seit über zwanzig Jahren in der Erforschung seines Berufsstands aktiv. «Sie spüren eine Unruhe, greifen zu einem Medikament zum Überbrücken, es wirkt, sie nehmen es häufiger, es ist ja leicht verfügbar, bis sie nicht mehr davon loskommen. Zwar wissen Ärzte um die Gefahren, doch sie überschätzen sich, sie glauben, sie könnten ihren Konsum kontrollieren. Aber das stimmt nicht, da sind tiefe Hirnbereiche wie das Belohnungssystem betroffen, das sich der willentlichen Kontrolle entzieht.»

Zwei Stoffe haben ein grosses Suchtpotential: Benzodiazepine und Opiate. Die erste, etwa in Valium enthaltene Substanz dient als Schlaf- und Beruhigungsmittel. Opiate, eigentlich bei einem Herzinfarkt oder starken Tumorschmerzen wirksam, nehmen Ärzte der euphorisierenden Wirkung wegen ein.

Noch häufiger als zu Medikamenten greifen Ärzte allerdings zur Flasche. Alkohol steht an erster Stelle der Suchtmittel, das hat die Schweizer Ärztestudie gezeigt. 30 Prozent gelten als sogenannte Risikotrinker, doppelt so viele wie in der Schweizer Bevölkerung; in diese Kategorie fällt, wer beispielsweise zwei- bis dreimal pro Woche jeweils einen halben Liter Wein oder mehr aufs Mal trinkt. Nur gerade 4 Prozent der Befragten bezeichnen sich als abstinent, gegenüber 20 Prozent im Schweizer Schnitt. «Drei Viertel der Schweizer Ärzte sind gesund», fasst Beat Künzi die Studie zusammen, «aber ein erschreckend grosser Teil nimmt Schaden bei der Berufsausübung. Wenn diese Ärzte dann auffällig werden, ist die Situation meist dramatisch.»

«Ich habe eine Blinddarmentzündung, verschweige es aber, lächle sogar», schrieb Rogosow in der Antarktis in sein Tagebuch. Auch in dieser Hinsicht verhielt sich der Russe ganz typisch: Ärzten kann es noch so mies gehen, sie lassen sich nichts anmerken. Studien zeigen, dass sie weniger krankheitsbedingte Absenzen aufweisen. Viele arbeiten auch dann noch, wenn sie ihre Patienten mit den gleichen Symptomen längst krank geschrieben hätten. Viele sind auch gute Schauspieler, gerade bei psychischen Leiden, und sie wissen, wie sie ihre Sucht verstecken können, sie kennen die Medikamente, mit denen sich Entzugssymptome wie Schwitzen oder Zittern ausschalten lassen. Eine Sucht wird mit einer andern kaschiert.

Hinter dem Versteckspiel stehen die Scham, versagt zu haben, die Angst um die Stelle, die Berufszulassung, die Existenz. Und doch wird manche Krankheit publik, weil ein Patient eine Alkoholfahne riecht, weil ein Arzt mit einem Promille in einer Verkehrskontrolle hängenbleibt oder die Treppe hinunterstürzt und in die Notfallstation kommt. Den Moment, wenn alles auffliegt, schildern Betroffene als grosse Erleichterung.

Viele landen dann in einer Klinik, etwa in der privaten Oberbergklinik Hornberg im Schwarzwald, die sich seit über zwanzig Jahren auf die Behandlung suchtkranker ­Ärzte spezialisiert und mittlerweile auch bei Hannover und Berlin Ableger hat. Ein paar Tausend Ärzte wurden schon behandelt, einige auch aus der Schweiz.

«Nach acht Stunden im Spital war ich müde, völlig fertig», erzählt ein ehemaliger Patient. «Dann setzte ich mir eine Spritze, auf der Toilette, wie die Kinder vom Bahnhof Zoo. Danach war die Wut weg, die Angst verflogen, ich konnte wieder nett sein zu den Patienten und zum Pflegepersonal, hatte die Geduld, den Angehörigen zuzuhören. Ich war Assistenzarzt, es war meine erste Stelle nach dem Studium. An die Opiate heranzukommen war nicht schwer. Ich verordnete ja den Patienten den Stoff und konnte einen Teil der Ampullen für mich abzweigen. Einmal probierte ich ein Medikament aus, dessen Wirkung ich nicht kannte, da bin ich zusammengebrochen, gleich im Spital. Die anderen dachten zuerst an einen Suizidversuch. Als ich aus dem Koma erwachte und von meiner Sucht erzählte, wurde mir gekündigt. Ich begann eine ambulante Therapie, fand eine neue Stelle, brach die Behandlung ab, rutschte nach und nach wieder in die Sucht. Einem Pfleger fiel das auf, und er sprach mich an. Aber ich kam nicht los, und er wandte sich an meinen Chef. Diesmal wurde ich krank geschrieben und kam in eine stationäre Therapie.»

Professor Götz Mundle, ärztlicher Geschäftsführer der Oberbergklinik, weiss, weshalb Ärzte krank werden. «Sie sind stark gefährdet, sich zu überfordern. Sie lernen sehr früh, immer zur Verfügung zu stehen, rund um die Uhr zu funktionieren. Dazu kommt der Idealismus: Sie wollen helfen, wollen für andere da sein, deshalb haben sie ihren Beruf ja gewählt. Die Bereitschaft, die eigenen körperlichen Grenzen zu überschreiten, ist sehr gross.»

Um gesund zu werden, müssen Ärzte zuerst akzeptieren, dass sie krank sind. Sie müssen, sagt Mundle, von der Arztrolle in die Patientenrolle wechseln. «Wer jahrelang davon gelebt hat, helfen zu können, fremde Ansprüche zu befriedigen, dem fällt das schwer. In einer Gruppe mit anderen Ärzten gelingt dieser Schritt leichter.» In der sechs- bis achtwöchigen stationären Therapie sollen die Mediziner erfahren, dass sie auch ohne Alkohol, ohne Medikamente leben können. Danach beginnt eine ein- bis zweijährige ambulante Therapie, dazu kommt der Besuch von Selbsthilfegruppen.

In der Schweiz gibt es verschiedene Suchtkliniken, aber kein vergleichbares auf Ärzte ausgerichtetes Programm. Immerhin betreibt die Ärztegesellschaft FMH seit 2007 eine Anlaufstelle, wo sich Betroffene an Spezialisten wenden können. Die FMH geht davon aus, dass 2 bis 3 Prozent ihrer Mitglieder Hilfe benötigen. Von den 30 000 in der Schweiz zugelassenen Ärzten haben in den ersten drei Jahren aber erst 56 vom Angebot Gebrauch gemacht.

Andere Länder haben früher und konsequenter Hilfestellungen für Mediziner geschaffen. Die USA zum Beispiel: Dort erhalten Krankenhäuser mittlerweile nur noch dann eine Zulassung, wenn sie über ein Interventionsprogramm für kranke Ärzte verfügen. In Barcelona gibt es seit über zehn Jahren eine Klinik ausschliesslich für Ärzte. Wer sich dort anmeldet, wird unter einem falschen Namen aufgenommen, damit die Anonymität gewahrt bleibt.

Als ein «Beispiel von Entschlossenheit und menschlichem Überlebenswillen» hat Rogosows Sohn, der ebenfalls Arzt geworden ist, die Operation gedeutet, als er einen Bericht darüber vor kurzem in einer Ärztezeitschrift veröffentlichte. In diesem Punkt weist der Fall, will man den Berufsstand verstehen, aber in die falsche Richtung. Denn Ärzte fallen nicht durch ihren Überlebenswillen auf, sondern im Gegenteil dadurch, dass sie dem eigenen Leben häufiger ein Ende setzen. Die Selbstmordrate unter Ärzten, das zeigt eine Metaanalyse von 25 Studien, die zwischen 1960 und 2004 publiziert wurden, ist rund 40 Prozent höher als im Schnitt der Bevölkerung. Ärztinnen weisen gar eine um 130 Prozent höhere Suizidrate auf. Als Gründe werden angeführt: die Arbeitsbelastung, eine stärkere depressive Veranlagung, im Fall der Frauen zusätzlich sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Das Zusammenspiel dieser Faktoren ist nicht geklärt. Klar ist allerdings: Die Erfolgsrate bei Ärzten und vor allem bei Ärztinnen ist deutlich höher. Im Schnitt führt einer von zehn Suizidversuchen, die Frauen begehen, zum Tod, unter Ärztinnen endet mehr als jeder zweite tödlich. Sie verstehen nicht nur, Leben zu verlängern, sie wissen auch, wie man es beendet.

Stress, Medikamentenmissbrauch, Alkoholsucht, Selbst­mord ­– die vielen Studien über die gesundheitlichen Risiken und Nebenwirkungen des Arztberufs zeigen ein düsteres Bild. Und doch, das mag überraschen, steht es um die Gesundheit der Ärzte gar nicht schlecht. Vor allem dann nicht, wenn man sie an einem objektiven Massstab misst: der Lebenserwartung. Ärzte leben länger als der Durchschnitt, im Schnitt drei Jahre.

«Mit Ausnahme des Suizids weisen Ärzte bei allen Todesursachen ein kleineres Risiko auf», sagt Erica Frank, Professorin an der Universität von British Columbia und eine der führenden Forscherinnen auf dem Gebiet der Ärzte­gesundheit. «Die Last ihrer Arbeit wird mehr als überwogen vom hohen sozioökonomischen Status, also Ausbildung, Einkommen und Beschäftigung.» Von diesen Faktoren hängt es in erster Linie ab, wie gesund oder ungesund jemand lebt. Und dann scheinen die Ärzte ihr medizinisches Wissen bei einem zentralen Punkt zu nutzen: Sie rauchen deutlich seltener. Zum gleichen Schluss ist auch eine Schweizer Untersuchung der Mortalität nach Berufsgruppen gekommen – sie wurde das letzte Mal vor über 25 Jahren durchgeführt. Ärzte haben klar bessere Lebensaussichten, lautete schon damals das Fazit, sie schnitten ebenso gut ab wie Theologen.

Und noch in einer Hinsicht greifen Ärzte auf ihr Fachwissen zurück: Sie sind viel zurückhaltender, wenn es um Operationen am eigenen Körper geht. In zahlreichen ­Stu­dien hat der Tessiner Gesundheitsökonom Gianfranco Domenighetti gezeigt, dass Ärzte sowie ihre Frauen und Kinder sich geläufigen, nicht dringenden chirurgischen Eingriffen seltener unterziehen. Konkret zählte Domenighetti einen Drittel weniger Operationen bei Hämorrhoiden und Leistenbruch, bei der Entfernung von Gallenblase und Mandeln sowie bei Ausschabung und Entfernung der Gebärmutter. Ärzte, erklärt Domenighetti, sind beim Abschätzen des Risikos eines Eingriffs eben vorsichtiger. Eine einzige Opera­tion liessen Ärzte häufiger an sich ausführen: die Entfernung des Blinddarms.

Thomas Schenk ist freier Journalist; er lebt in Zürich.