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NZZ Folio Ökostrom

Unter Strom

NZZ Folio, März 2010
Wer dem Ökostrom auf den Grund geht, der merkt: Die Schweiz ist in Sachen erneuerbarer Energie ein Entwicklungsland.

 «Per sofort, ist das gut für Sie?» Herr Kropitsch vom Kundenzentrum des Elektrizitätswerks der Stadt Zürich (EWZ) versteht es, die Anrufer rasch zu ökologisch korrekten Stromkonsumenten zu machen. Ich stelle mir vor, wie heute Handwerker auf ein Dach steigen, um ein neues Solarpanel zu montieren, und frage: «Kann man das so schnell?» «Ja», sagt Herr Kropitsch, «der Tarif wird angepasst auf Ökostrom, und Ihr Betrag geht dann in die Produktion von Ökostrom, und Ihre Mehrinvestition geht in den Bau neuer Anlagen für Ökostrom.»

4 Rappen mehr kostet mich Ökostrom pro Kilowattstunde. Da darf man fragen, ob man dafür anderen Strom erhält. «Nein», nimmt mir Herr Kropitsch die erste Illusion, «Sie bekommen den gleichen Strom wie bisher. Es gibt keine separate Ökostromleitung zu Ihrer Wohnung. Aber wir erhöhen die Produktion von Ökostrom um Ihren Beitrag. Ihr Geld fliesst in diese Anlagen.»

Das Stromnetz müsse man sich wie einen grossen See vorstellen, schreibt das EWZ in einer Broschüre: Alle Schweizer Kraftwerke leiten ihre Produktion dort hinein. Der Strom von Wind- und Solaranlagen vermischt sich also mit jenem aus Kern- und Wasserkraftwerken. Die Verbraucher zapfen diesen See an, um ihre Menge zu beziehen, konsumieren also eine Mischung aus den unterschiedlichen Quellen.

«Aber woher», frage ich Herrn Kropitsch, «kommt mein Ökostrom, den das EWZ in diesen See, also in das Stromnetz, einspeist?» – «Einen grossen Teil produzieren wir in Wettingen», sagt Herr Kropitsch, «und auch in Höngg haben wir eine Anlage, die Ökostrom aus Wasserkraft liefert.» Der Solarstrom, den ich neu ebenfalls beziehe, kommt von der Solarstrombörse des EWZ, einem Verbund, dem rund 270 Solaranlagen in der ganzen Schweiz angeschlossen sind. Das EWZ besitzt keine eigenen Anlagen. Um den Bedarf zu decken, schliesst das Werk langjährige Verträge mit Solarstromproduzenten ab, bezieht den Strom und bezahlt dafür kostendeckende Preise. Die ersten Panels wurden 1996 an einem Getreidesilo in Zürich befestigt, die grösste Anlage steht auf dem Dach des Letzigrundstadions, und auch aus dem Tessin und dem Engadin bezieht das EWZ über die Solarstrombörse Energie.

Bis vor ein paar Jahren war Strom einfach Strom. Heute hat Strom ganz verschiedene Namen. Am grössten ist die Vielfalt beim Ökostrom, den gibt es als Pure Power, Öko­power, Naturstrom, Naturmix, Vivonatur, Clean Solution und so weiter. Wobei sich alle auf das Label «naturemade star» stützen, verliehen von Naturmade. Dieser Verein stellt die Richtlinien für umweltgerechte Stromproduktion auf.

In Zürich kann man seit 2006 zwischen vier verschiedenen Qualitäten wählen, am billigsten ist der Mix aus Atomstrom, Wasserkraft und Kehrichtverwertung, am teuersten reiner Solarstrom. Der Strom, den ich bisher bezog, trug den Namen ewz.naturpower und war bloss 0,5 Rappen teurer als der Strommix. Auf meiner alten Rechnung steht, dass es sich dabei um erneuerbare Energie handelt mit einem Anteil von «mindestens 5 Prozent Ökostrom – davon mindestens die Hälfte aus Wind- und Biomassenanlagen».

Jetzt heisst mein Strom ewz.ökopower – das teilt mir das EWZ kurz nach dem Gespräch mit und bedankt sich, dass ich mich «für erneuerbare Energie entschieden» habe, die «nach höchsten ökologischen Kriterien» produziert wird. 5 Prozent meines Stroms stammen von Solaranlagen, also von der erwähnten Solarstrombörse. Der Rest kommt aus zertifizierten Wasserkraftwerken. Daraus erklärt sich der Preisunterschied von 4 Rappen: Die Solarenergie weist höhere Produktionskosten auf, pro Kilowattstunde Wasserkraft fliesst zudem 1 Rappen in einen Fonds, aus dem Massnahmen zur Aufwertung der Landschaft finanziert werden. Ein Auenpark an der Limmat zum Beispiel.

Den Unterschied zwischen Natur und Öko hatte Herr Kropitsch mir wie folgt erklärt. «Beim Ökostrom müssen spezielle Kriterien erfüllt sein. Bei Wasserkraftwerken sind Fischtreppen vorgeschrieben, damit die Tiere durchschwimmen können. Das Restwasser ist gewährleistet.» Was heisst, dass nur so viel Wasser aus einem Fluss entnommen wird, dass dieser weiterhin Lebensraum für Tiere und Pflanzen bietet. Damit hat Herr Kropitsch meine Illusionen ein weiteres Mal enttäuscht. Was er erklärte, hiess nichts anderes als: Mein Wechsel zu reinem Ökostrom mag zwar gut sein für die Fische, dem Klima aber hilft er nicht. Zumindest nicht hier in Zürich, wo bereits beim Standardprodukt auf fossile Energie verzichtet wird.

Wer dagegen in Bern oder Aarau lebt und sich bisher mit Standardstrom zufriedengegeben hat, kann mit dem Wechsel zu Ökostrom mehr für die Umwelt bewirken. Hier stammen 60 respektive 75 Prozent aus Atomkraftwerken, der Rest aus Wasserkraft. Die Umweltbelastung bei der Gewinnung von Uran und vor allem in Form des Atommülls lässt sich mit Ökostrom vermeiden. Wie viel der Wechsel zu Ökostrom bringt, hängt also davon ab, welche Standardqualität am Wohnort geliefert wird.

Seit drei Jahren müssen die Schweizer Elektrizitätswerke die Produktionsart ihres Stroms deklarieren und auch, ob dieser aus dem In- oder Ausland stammt. Doch nicht alle halten sich daran. Wer zum Beispiel in Chur wohnt, erfährt rein gar nichts über die Herkunft seines Stroms. Exakt 99,2 Prozent des Stroms, den Rätia Energie verkauft, kommen aus «nicht überprüfbaren Quellen». Strom, wie das Bundesamt für Energie ermittelt hat, der alles andere als umweltfreundlich ist, sondern «auf internationalen Strombörsen eingekauft wurde und der mehrheitlich aus fossilen und nuklearen Quellen stammt». Gemäss der Erhebung aus dem Jahr 2007 macht «Strom aus unbekannter Herkunft» fast einen Fünftel des Schweizer Verbrauchs aus.

Und was geschieht mit der klimafreundlichen Wasserkraft, für die weder Erdöl noch Uran eingesetzt werden müssen und die über die Hälfte der jährlichen Stromproduktion der Schweiz ausmacht? Nur 60 Prozent davon werden im Inland verbraucht, hat das Bundesamt ermittelt, 40 Prozent werden ins Ausland verkauft. Viele italienische Kraftwerke decken sich auf diesem Weg mit sauberer Energie ein, weil sie der Staat zu einem Mindestanteil an Ökostrom verpflichtet. Strom aus Wasserkraft, sagt das Bundesamt, lasse sich im Ausland zu besseren Konditionen verkaufen, sprich mit Gewinn.

Niemand betreibt dieses Geschäft so radikal wie Rätia Energie. Zwar produziert das Unternehmen in eigenen Kraftwerken im Bündnerland sehr wohl Ökostrom. Wer aber nicht ausdrücklich solchen verlangt, erhält «günstigen Standardstrom, der aus jeglichen Produktionsanlagen Europas stammen kann». Darunter auch, wie Umweltverbände kritisieren, aus osteuropäischen Kohlekraftwerken. Dieser Handel trübt die Schweizer Umweltbilanz. Aus einer von der Erdölvereinigung und der Erdgasindustrie finanzierten Studie geht hervor, dass dadurch «rund 10 Prozent des Stroms im Schweizer Netz aus fossilen Kraftwerken im Ausland stammen. Ein Grossteil davon wird in Deutschland mit Stein- und Braunkohle erzeugt.»

Etwas hat das Ökostrommarketing bis heute nicht erreicht: den Anteil der erneuerbaren Energien, abgesehen von Wasserkraft, spürbar zu erhöhen. Auf Wind-, Sonnen- und Biomassenenergie entfällt weniger als 1 Prozent der Schweizer Stromproduktion. In Deutschland liefern Windturbinen bereits 8 Prozent des Stroms, in Spanien schon 14 Prozent. Der Rückstand der Schweiz lässt sich nicht mit dem Wetter erklären, der Grund ist ein politischer. In Deutschland und Spanien können private Anbieter ihren Ökostrom seit bald zehn Jahren zu einem festgelegten, kostendeckenden Preis ins Netz einspeisen. Die Schweiz kennt diese Einspeisevergütung erst seit einem Jahr. Bei der Einführung war das Interesse so gross, dass das Kontingent des Bundes schon nach kurzer Zeit ausgeschöpft war. Knapp 3000 Anlagen wurden bewilligt, die anderen landen auf einer Warteliste, auf der bis heute über 5000 Projekte aufgeführt sind.

«Hat es denn überhaupt genug Ökostrom?» wollte ich deshalb von Herrn Kropitsch wissen. Er sagte nur: «Kein Problem.» Dass er das so locker sagen konnte, ist das Verdienst von Gian Carle. Er leitet den Bereich Handel Erneuerbare Energien beim EWZ. Wobei er und sein siebenköpfiges Team weniger Handel treiben als vielmehr Ökostrom einkaufen. Als ich ihn besuche, liegt ein grosser Papierbogen vor ihm, die sogenannte Beschaffungsliste. Darauf sind die verkauften Mengen aufgeführt und sämtliche Anlagen, die Ökostrom produzieren, sowie Lieferverträge mit anderen Werken. In verschiedenen Farben, blau für Wasserkraft, gelb für Solarstrom, dunkelgrün für Biomasse und hellgrün für Windkraft. In der untersten Zeile kann er sehen, ob er für jede Kategorie genügend Strom beschafft hat. Und es habe immer genug, sagt Carle. «Mehr zu verkaufen als zu produzieren wäre sehr schädlich für unser Image.»

Einmal im Jahr kontrollieren unabhängige Auditoren Carles Abrechnung. Sie rechnen die tatsächlich produzierte Strommenge nach, stellen also sicher, dass Ökostrom nicht zweimal verkauft wird, und sie besuchen einzelne Anlagen, um zu überprüfen, dass der Strom gemäss den verlangten Richtlinien produziert wird. Die Kraftwerke, die Strom gemäss dem Label «naturemade star» produzieren, lieferten letztes Jahr schweizweit 1,5 Milliarden Kilowattstunden oder 2,5 Prozent der gesamten Stromproduktion.

Das EWZ bezieht einen grossen Teil des Ökostroms aus eigenen Kraftwerken, vor allem bei der Wasserkraft. Bei Windkraft setzt Gian Carle auf Beteiligungen an bestehenden Anlagen, die meisten davon im Ausland, die Sonnenenergie wird über die Solarstrombörse beschafft. Reicht all dies nicht aus, so schliesst Carle mit anderen Kraftwerken Lieferverträge ab. Letztes Jahr zum Beispiel mit einem Solaranbieter in Liechtenstein. Wobei Liefervertrag hier das falsche Wort ist, denn der Strom wird gar nicht bezogen. Die Solarenergie wird ins Netz von Vaduz oder Schaan gespeist. Carle kauft bloss den «ökologischen Mehrwert» ab, ein Zertifikat, auf dem steht, dass ein bestimmtes Werk eine bestimmte Menge Solarstrom tatsächlich produziert hat. Das EWZ, das zurzeit rund einen Viertel des Solarstroms mit Zertifikaten abdeckt, kann so seinen Strommix aufbessern. Im Gegenzug verkauft das Elektrizitätswerk in Liechtenstein, wo die Panels stehen und der physische Strom ins Netz geht, ihren Kunden gewöhnlichen Strom.

Nicht dass ich den Wechsel zu Ökostrom bereue, doch ist mir klar geworden, wie abstrakt das Produkt ist. Der Nutzen für die Umwelt hängt stark davon ab, welche Qualität einem das Elektrizitätswerk bisher geliefert hat. Und das Geld, das ich mehr bezahle, fliesst auf ähnlich verschlungenen Wegen wie der Strom selbst. «Physisch merken Sie nichts», hatte Herr Kropitsch am Anfang gesagt. Jetzt weiss ich, wie recht er damit hatte.