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NZZ Folio Senioren

Die Nimmermüden

NZZ Folio, Juli 2012

Die Senioren sind für die Wirtschaft besonders attraktiv: Sie haben Geld, Zeit und bleiben immer länger gesund. Und keine Konsumentengruppe wächst so schnell wie sie.

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Gabriela Rickli-Gerster, Königin der Ladymodels,
verkörpert die vitale reife Frau. © Suzanne Schwiertz

Gabriela Rickli-Gerster steht für die Credit Suisse in einem Loft in Hamburg vor der Kamera, sie macht Werbung für den Wäschehersteller Wolford und das Schmuckunternehmen Swarovski, sie lässt sich in Spanien für den Modekatalog von Hessnatur fotografieren. Neben ihren Massen (89-70-94) stehen auf ihrer Website auch Haarfarbe und Jahrgang. Grau, 1954.

Mit 57 und leuchtend silbergrauen Haaren ein gefragtes Fotomodell zu sein, das wäre damals, als Rickli-Gerster ihre Karriere begonnen hatte, nicht möglich gewesen. Mit 20 war sie für Dior und Chanel über den Laufsteg gegangen. «Da war ich makellos, aber nur eine Hülle. Heute werde ich für das gebucht, was als Makel gesehen wird, die grauen Haare und ein paar Falten. Die Konsumentinnen haben es offenbar satt, Antifaltencrème von Teenagern präsentiert zu bekommen.»

Die «Königin der Ladymodels», wie sie von der Fachpresse auch genannt wird, ist wandlungsfähig. Mal tritt sie als Vamp auf, stark geschminkt für mondäne Mode, mal seriös für eine Bank, dann wieder als Oma in einer Familienszene für Strickjacken. Wenige Produkte, für die sie sich nicht buchen liesse: «Für dritte Zähne oder ein Rheumamittel würde ich heute keine Werbung machen, dafür fühle ich mich noch nicht glaubwürdig.» Als sie einmal zu einem Shooting für einen Rollator bestellt wurde, reiste sie gleich wieder ab. Sie will die vitale reife Frau darstellen. Die Gebrechen kommen später.

Die Entdeckung des Seniorenmarkts

An Rickli-Gersters Körper beziehungsweise seinen Inszenierungen lässt sich die Attraktivität des Seniorenmarktes ablesen. Seit einigen Jahren schon gelten die älteren Menschen als Zukunftshoffnung. Die Fakten sprechen für sich. Erstens haben sie Geld – mit dem Alter wächst das Vermögen: Die Hälfte aller Erbschaften geht an Menschen im Rentneralter, in Zürich etwa versteuert jeder fünfte über 65 ein Vermögen von über 1 Million Franken. Sie haben zweitens mehr Zeit, was sie länger Ferien machen lässt, sind drittens länger gesund. Und fühlen sich viertens glücklicher als jede andere Altersgruppe in der Schweiz, das hat das Bundesamt für Statistik Ende 2011 erhoben. Zusammen ergibt das ziemlich genau die Formel fürs Shoppingglück.

Die Nachfrage der Werber nach älteren Menschen wächst, Modelagenturen vermitteln gezielt sogenannte Best Agers, Frauen wie Männer. Dahinter steckt der demographische Wandel: Menschen ab 60 sind die am schnellsten wachsende Konsumentengruppe. Dieser Entwicklung hat Rickli-Gerster den Wiedereinstieg zu verdanken. Mit 30 hatte sie das Modeln aufgegeben, mit 40 und bereits mit grauen Haaren wurde sie von einer Kosmetikfirma angefragt und reiste für die Aufnahmen auf die Seychellen. Ihre Karriere begann ein zweites Mal.

Das Timing war nicht zufällig. 1994 hatte im Seniorenmarketing das stattgefunden, was sich als kopernikanische Wende bezeichnen lässt. Das neue Weltbild entworfen hatte damals Nivea. Dem Mutterhaus Beiersdorf war es mit der Pflegelinie Vital erstmals gelungen, ein Produkt für Frauen ab 50 einzuführen. Nach sechsjähriger Entwicklungszeit wurde die Crème zuerst in der Schweiz, dann in Deutschland und bald weltweit vertrieben. Die Lancierung wird seither an Wirtschaftshochschulen als Fallbeispiel behandelt; als Grund für den Erfolg gilt nicht die Wirkung des Produkts, sondern die Werbung, also Wortwahl («für reife Haut»), ein glaubwürdiges Model (die 53jährige grauhaarige Susanne Schoeneborn) und ein Budget von mehreren Millionen Franken. Nur ein paar Monate später zog Procter & Gamble mit einem ähnlichen Produkt nach. Das Rezept für den Seniorenmarkt war gefunden.

Schon früher hatte der Pillenknick die Firmen nach neuen Märkten suchen lassen. Angesichts rückläufiger Geburtenzahlen versuchte in den 1970er Jahren der Babynahrungshersteller Gerber, seine magen- und zahnfreundlichen Breie auch Senioren zu verkaufen. Er scheiterte kläglich; die Konservengläser, auf die Bilder älterer Menschen gedruckt waren, blieben in den Regalen stehen. Nicht besser erging es Johnson & Johnson mit dem Haarshampoo Affinity. Der Slogan «gegen altes Haar» war ebenso ehrlich wie abschreckend.

Auf dem Shampoo, zu dem Rickli-Gerster greift, steht «für graues Haar», es verhindert einen Gelbstich. Überhaupt treibt sie dafür, dass sie noch immer im Geschäft ist, einigen Aufwand. «Die meisten Aufträge kommen sehr kurzfristig. Ich muss also immer bereit sein, das heisst gute Haut, perfekte Zähne, gepflegte Fuss- und Fingernägel, ein guter Haarschnitt.» Sie isst seit über 30 Jahren weder Fleisch noch Fisch, trinkt keinen Alkohol, raucht nicht, macht Yoga. Und natürlich zügelt sie ihren Appetit. «Disziplin, nicht nur beim Essen, ist wichtig, wenn man schön und leistungsfähig sein will.»

«Erfolgreich alt werden», nennt dies Karin Frick. «Solche Anstrengungen», sagt die Forschungsleiterin am Gottlieb-Duttweiler-Institut, «sind heute Pflicht. Die neuen Seniorenvorbilder, Models in der Werbung oder geliftete Promis in den Medien, setzen die Menschen unter Druck. Die Erwartungen wachsen, aktiv und sportlich zu sein. Das Leistungsdenken aus dem aktiven Berufsleben wird bis über 70 fortgesetzt. Das Soll-Level steigt.» Was Frick meint, lässt sich in den Wartezimmern der Schönheitschirurgen ebenso studieren wie in den Fitnesscentern, wo die Alten Gewichte stemmen und auf dem Ergometer schwitzen.

Carreisen? Nein danke!

Als die Helvetia-Versicherung vor zehn Jahren damit begann, sich auf die Generation 50plus, wie das begehrte Kundensegment häufig genannt wird, auszurichten, war sie der Konkurrenz voraus. Wer bei ihr eine Lebensversicherung oder eine Leibrente abschloss, erhielt verschiedene Leistungen zusätzlich, vergünstigte Carreisen etwa, Autoschleuderkurse oder eine Bestattungsversicherung. Das Unternehmen hatte das Potential der älter werdenden Bevölkerung erkannt.

Die Branche war vom Vorstoss der Helvetia beeindruckt. Was sie nicht wusste: Die Charmeoffensive liess die Senioren kalt, die Vergünstigungen interessierten nur wenige. «Vor zwanzig oder dreissig Jahren hätte dies vielleicht noch funktioniert», sagt Reto Kleiner von der Helvetia, «damals blieb man nach der Pensionierung zu Hause und wartete sozusagen auf den Tod. Inzwischen hat sich alles verändert, die Menschen sind länger gesund, unternehmungslustig. Statt mit dem Car verreisen sie mit dem eigenen Wohnmobil, machen Veloferien.» Die jungen Alten behalten ihren Lebensstil bei, wenn sie 50 oder 60 werden. Eben hat eine Befragung in Grossbritannien gezeigt, dass die Älteren häufiger zum Joint greifen, seit 1993 hat sich die Zahl der Kiffer zwischen 50 und 64 Jahren verzehnfacht.

Heute, nach einer Anpassung der Strategie, heissen die Jahre zwischen 50 und 65 bei der Helvetia «Planungsfenster Pensionierung». Während dieser Zeit, so das idealtypische Modell, soll die finanzielle Situation alle fünf Jahre überprüft und die Rente geplant werden. Dazu steht eine – ohne Berater schwer zu durchschauende – Vielfalt an Vorsorge- und Finanzprodukten bereit. Die Phase ab 65 umschreibt Kleiner mit Vermögensverzehr, ein Teil des Besitzes soll bewusst verbraucht werden. «Solange die Menschen gesund sind, wollen sie leben. Kinder und Enkel sollen auch etwas bekommen, doch anders als früher spart man nicht mehr ausschliesslich für die Nachkommen. Man schaut mehr für sich.»

Die ganze Finanzbranche hat sich auf die Generation 50plus eingestellt, Banken und Versicherungen haben eigene Beratungsteams geschaffen und Spezialisten für Pensionsplanung rekrutiert. Dabei greifen sie auch zu unkonventionellen Methoden. Um das Vertrauen älterer Kunden zu gewinnen, schickt die Coop-Bank ihre pensionierten Anlageberater oder Geschäftsstellenleiter auf die Piste. «Senioren für Senioren» heisst das Konzept. Wer selbst AHV und Renten bezieht und ins Schnaufen kommt, wenn er die Treppe zu den Rentnern hochsteigt – die Gespräche finden bei den Kunden statt –, ist glaubwürdiger als ein 30jähriger Vertreter. Die Beratung ist kostenlos, die Coop-Pensionäre erhalten keine Provision, sondern werden für ihren Stundenaufwand entschädigt.

Generation 50plus: Dass sich der holprige Begriff überhaupt durchgesetzt hat, ist der Eigenmächtigkeit von ein paar Männern zu verdanken. Anfang der 1990er Jahre propagierte Helmut Thoma von RTL die 19- bis 49jährigen als die relevante Zielgruppe für den Privatsender, um sich so von ARD und ZDF punkto Jugendlichkeit abzuheben. Die Grenzziehung, sagte er später einmal, sei «reine Willkür» gewesen. Die Schranke setzte sich in den Köpfen der Werber fest, und damit war auch die Basis für eine Zielgruppe auf der anderen Seite der Linie geschaffen, die 50plus. Wobei Thoma nicht der erste war, bereits Ende der 1950er Jahre hatte Leonard Goldenson seinen US-Fernsehsender ABC auf das dank den Babyboomern wachsende Segment der 19- bis 49jährigen ausgerichtet.

So richtig warm sind die Werber aber nie geworden mit dem Segment der 50plus. Bis heute wird nur ein kleiner Teil der Werbeausgaben gezielt dafür eingesetzt; zahlreiche Befragungen zeigen, dass sich die Mehrzahl der Senioren nicht von den Botschaften angesprochen fühlt.

Werbung muss nicht cool sein

Michael Schönhaus versucht das zu ändern. Bevor er sich vor bald fünf Jahren selbständig gemacht hat, hatte er bei grossen Agenturen gearbeitet. Seither konzentriert sich sein Studio 54 auf die Generation 50plus, der er selber angehört. Zu seinen Kunden zählen Versicherungen und Banken, er macht Kampagnen für die «Glückspost», für einen Schönheitschirurgen, eine Schmerzklinik und für die Sterbehilfeorganisation Exit – ein mehr oder weniger repräsentatives Bild der spezifischen Bedürfnisse im Alter. «Meine Auftraggeber sind meist jünger als ich, die fragen mich: Wie finden Sie das, was halten Sie davon? Die schätzen meine Erfahrung.» Das Alter wird zum Wettbewerbsvorteil.

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Michael Schönhaus, Werber, hält nichts von Begriffen
wie Generation Gold oder Best Ager. © Suzanne Schwiertz

«Bei den Werbeagenturen sind oft nur die Chefs über 30», sagt Schönhaus. «Noch vor kurzem gab es Agenturen, die gaben das Durchschnittsalter auf der Homepage an, je tiefer, desto besser. Aber wie sollen die Jungen wissen, was für die Älteren wichtig ist? Ein 20- oder 30jähriger will sich nicht in die Rolle eines 50jährigen versetzen, das ist nicht cool. Und es geht auch nicht, es ist gegen die Natur des Menschen.»

Kommunikation für Senioren hat viel mit Handwerk zu tun. Die Mailings, die Schönhaus macht, müssen überraschend, direkt und vor allem gut lesbar sein. «Niemand kauft sich eine neue Brille, um eine Broschüre in 7-Punkt-Schrift lesen zu können, auch wenn es stylish aussieht.» Er kennt die Limiten, die das Alter schafft, er ärgert sich über Begriffe wie geil und krass, er findet nicht mehr alles schräg und cool. «Im Alter wird man kritischer und anspruchsvoller, gerade was die Qualität angeht. Das muss Werbung beachten. Auch wenn man sich jung und modisch kleidet, auf der Festplatte sind die Lebensjahre gespeichert.»

Dass die ältere Generation noch häufiger eine Tageszeitung abonniert hat, heisst für Schönhaus, «die sind bereit, für Informationen zu bezahlen, können noch lesen und im Hirn noch mehr als fünf Sätze verarbeiten. Werbung muss sich nicht auf ein Bild und ein Schlagwort beschränken, sie soll Informationen bieten.» Was sie nicht enthalten darf: Anspielungen aufs Alter. Der Brief, den er für eine Versicherung textete, wurde nicht exakt zum 50. Geburtstag versandt, sondern zwei Monate später, das Alter wurde nicht erwähnt. «Die Menschen reagieren sehr ablehnend auf Begriffe wie Generation Gold, Silver Ager, Best Ager, 50plus und so weiter. All das steht auf dem Index.»

Wer es dennoch verwendet, zielt auf die wirklich Alten. So war eine der letzten Ausgaben von «Mediaplanet», einer über Anzeigen finanzierten Zeitungsbeilage, der Generation 50plus gewidmet. Dabei wurde die Zielgruppe um geschätzte 30 Jahre verfehlt: Inserate und Publireportagen reichten von Altersresidenzen über komplette Gebisssanierung («feste Zähne in 24 Stunden») bis zu einem auf Testamentsberatung und Bestattungsorganisation spezialisierten Finanzberater.

Dass Werber ihre Kunden nicht direkt über das Alter ansprechen können, hat mit einer Verzerrung der Wahrnehmung zu tun. Die Menschen fühlen sich jünger, als sie sind. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat die Diskrepanz exakt ermittelt: Menschen über 70 schätzen sich im Schnitt 13 Jahre jünger ein. In der grossangelegten Berliner Altersstudie wurden Frauen und Männer im Alter zwischen 70 und 104 Jahren über längere Zeit befragt. Dabei zeigte sich, dass die Selbstwahrnehmung mit dem Alter noch unzuverlässiger wurde. Das Alter ihres Spiegelbildes zu bestimmen fiel den Senioren etwas leichter: Sassen sie sich gegenüber, schätzten sie sich bloss um 10 Jahre zu jung, im Verlauf der Untersuchung sank der Unterschied zum effektiven Alter auf 7 Jahre.

Senior-Scouts auf der Pirsch

Beda Blattmer ist 71, fühlt sich aber «noch keine 60». Wenn er mit dem Enkel Mühle spielt, tut er das auf seinem iPad, über sein Face­book-Konto schreibt er Kommentare zu Cablecom, im Sommer ist er mit Steigeisen auf Gletschern unterwegs, im Winter fährt er stark taillierte Carvingski. Was er nicht mag: als alter Mann behandelt zu werden. Vor ein paar Jahren fragte ihn eine Verkäuferin in einem Swisscom-Shop, ob er schon einmal von den Seniorenhandys gehört habe. «Sie zeigte mir einen hässlichen Klotz. Ich sagte: Hören Sie mir sofort auf damit. Dann zeigte ich ihr mein iPhone.» Der ehemalige Staatsanwalt verwaltet darauf seine Termine, heute sind es mehr als früher.

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Beda Blattmer, Senior-Scout, hat mehr Termine als früher
in seinem Beruf als Staatsanwalt. © Suzanne Schwiertz

Die Senioren haben feine Antennen, sie registrieren die Signale rund ums Alter sehr genau. Das hat die Swisscom erfahren: Das Telefon mit den extragrossen Tasten, dem breiten Display und der gros­sen Schrift verkauft sich schlecht. Dass heute viele ältere Menschen lieber ein iPhone benutzen, liegt nicht nur am Produkt, sondern auch an der neuen Strategie der Swisscom. Vor vier Jahren wurde ein kleines Team gebildet, um Produkte und Dienstleistungen auf die Bedürfnisse der Älteren anzupassen und alle Unternehmensbereiche wachzurütteln. Nicht aus Menschenliebe, hier lag ein grosses, nicht ausgeschöpftes Potential.

Um die Internetdurchdringung und den mobilen Datenverkehr zu steigern, hat die Swisscom auch Blattmers Hilfe in Anspruch genommen. Sie hat ihn als Senior-Scout engagiert, zusammen mit zwanzig anderen Rentnern. Statt nach Shoppingtrends oder angesagten Restaurants suchen die freiwilligen Späher nach Dingen und Botschaften, die für ältere Menschen unpraktisch oder unverständlich sind. Sie füllen Internetfragebogen aus, testen Geräte, prüfen Rechnungsbeilagen und Prospekte. Als Scout musste Blattmer eine Notrufuhr der Swisscom beurteilen, mit der sich per Alarmknopf eine Verbindung zum Notfalldienst herstellen lässt. Die Uhr mit dem markanten roten Knopf kommt für ihn nicht in Frage. «Dafür bin ich noch viel zu jung. Aber ich habe meiner Schwiegermutter eine gekauft, sie ist 95. Doch sie hat sich damit geniert und sie in ihr Nachttischchen gelegt. Nach einem Jahr habe ich die Uhr zurückgebracht.»

Blattmer und die anderen Scouts sind von der Terz-Stiftung vermittelt worden. Die Vereinigung engagiert sich dafür, dass die ältere Generation gesellschaftlich integriert bleibt, und will mithelfen, «generationenfreundliche» Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Rund 300 Scouts, meist zwischen 65 und 80 Jahren, sind für die Stiftung im Einsatz. Sie testen Staubsauger, beurteilen Internetplattformen oder lassen sich von Regionalbanken in Geldfragen beraten. «Etwas Sinnvolles tun und geistig fit bleiben», erklärt Blattmer seine Motivation. Er macht es für ein Sackgeld, auf einen Rabatt für die Swisscom-Geräte, die er testet, hat er vergeblich gewartet.

Generationenfreundlich heisst bei der Swisscom zum Beispiel: Man entwickelt besondere Einsteigerangebote für Senioren, Internet- und Handykurse oder iPad-Workshops. Auf Wunsch fahren Swisscom-Monteure zu den Kunden nach Hause und richten den Computer oder den Internetanschluss ein. Eine Art Rundumversorgung für das Segment, das intern 55plus genannt wird – auf der Homepage werden die Angebote allerdings unter der Überschrift «Generation 50plus» zusammengefasst. Die soziokulturelle Verjüngung spielt auch hier.

Die Swisscom geht subtil mit dem Alter ihrer Kunden um. Zwar gibt es in den Callcentern geschulte Mitarbeiter, die gelernt haben, sich Zeit zu nehmen und die Ängste der Älteren abzubauen. Eine separate Nummer für die Senioren gibt es nicht, die würde nicht genutzt. Stattdessen werden die Anrufe anhand der Nummer, die über das Alter der Abonnenten Auskunft gibt, direkt den Spezialisten zugewiesen. Ebenso geschickt geht Swisscom mit Senioren um, die nicht so technikaffin sind. Letztes Jahr wurden Tanzanlässe in Bern und Neuenburg durchgeführt, mehrere Tausend Personen bewegten sich zu Dixieland und Swing. Brauchten die meist älteren Tänzer eine Pause, wurde ihnen vorgeführt, wie man sich Musik oder die genauen Tanzschritte auf ein Smartphone laden kann. Die Senioren sollen auf den Geschmack kommen.

Im Alterssimulator

Auch wenn sich ältere Menschen deutlich jünger fühlen, ihr Körper verändert sich. Die Muskulatur schrumpft, die Beweglichkeit nimmt ab. Tastsinn und Feinmotorik lassen nach, die Sehleistung ebenfalls, zusätzlich trübt sich die Linse gelb, was die Farben anders erscheinen lässt, das Violett einer Parfumverpackung wirkt abstossend. Das Gleiche mit dem Gehör: Der Rückwärtssensor im Auto hilft wenig, wenn man den Warnton nicht mehr hört.

Die Defizite und Gebrechen älterer Menschen zu verstehen hat einen eigenen Geschäftszweig entstehen lassen: die Alterssimula­tion. Produktentwickler und Ladengestalter, aber auch Verkäufer und Kundenberater werden in spezielle Anzüge gesteckt, um die Limiten am eigenen Körper zu erfahren. An einem Overall befestigte Gewichte oder Gummibänder schränken die Beweglichkeit ein, Brillen und Hörschutz reduzieren die Wahrnehmung. Instant Aging wird dieses Vorgehen genannt, selbst junge Menschen sollen sofort altern können. Ursprünglich für die medizinische Ausbildung entwickelt, werden die Anzüge seit einigen Jahren in der Konsum­güterindustrie und im Detailhandel eingesetzt.

Dass im Alter vieles beschwerlicher wird, erleben die Senioren beim Einkaufen. Tomatenpüree oder Salzstangen im obersten Regal sind unerreichbar (im Alter schrumpft der Mensch um mehrere Zentimeter). Wer müde wird, findet keine Sitzgelegenheiten. Die Verpackungsaufschriften lassen sich nicht entziffern. Die Lupen, die Coop an die Einkaufswagen montiert hat, sind nur ein schwacher Trost. Generell begnügen sich die Schweizer Detailhändler mit geringfügigen Anpassungen. Anders in Japan, im Land mit dem höchsten Durchschnittsalter. Dort haben sich Ladenketten auf Senioren spezialisiert. Die Beschriftungen sind grösser, das Verkaufspersonal ist älter, wer müde ist, kann sich im Laden hinsetzen.

In Europa haben solche Modelle nicht Fuss fassen können. Dabei hatte sich zum Beispiel die österreichische Adeg-Kette einiges einfallen lassen, als sie zwei ihrer Läden ganz auf die ältere Kundschaft ausrichtete. Die Regale waren, um die Orientierung zu erleichtern, nach Frühstück, Mittag- und Abendessen geordnet. Es gab kleinere Packungsgrössen, die Sonderangebote hatten ihre fixen Plätze. Die Parkplätze wurden verbreitert, das Parkhaus besser ausgeleuchtet. Wer wollte, konnte sich den Blutdruck messen lassen. Doch alle Mühe war vergebens, der Test wurde nach kurzer Zeit abgebrochen. Senioren wollen keine separaten Märkte, lautete das Fazit.

Während sich die Ladengestalter noch schwertun, werden immer mehr Produkte auf die ältere Generation zugeschnitten. Natürlich sagen das die Hersteller nicht so, das wäre dem Image abträglich. Lieber sprechen sie von «Universal Design»: Junge wie Alte sollen ihre Freude an elektrischen Zahnbürsten haben und an Lavabos mit unsichtbaren Griffmulden, an denen man sich bei Bedarf festhalten kann. Oder an der W 3903 Klassik von Miele. Diese Waschmaschine ist deshalb erwähnenswert, weil die Entwickler bei ihr zum bewährten Drehknopf zurückgekehrt sind. Der Drehknopf ist für Designleiter Andreas Enslin so etwas wie «ein Archetyp in der Steuerung». Anders als Displays entspricht er den Erwartungen der Kunden. «Wenn sie am Knopf drehen, passiert das, was sie wollen.» Damit auch Menschen mit eingeschränktem Tastsinn den Knopf zuverlässig bedienen können, wurde er mit einer spürbaren Rasterung versehen; eine Ringbeleuchtung hilft bei reduziertem Sehvermögen. Die Wahl einer grossen Beschriftung führte dazu, dass viele Programme weggelassen werden mussten, weil der Platz dafür fehlte. Aber das wirkte sich nicht nachteilig aus, die Klassikprodukte wurden zur erfolgreichsten Gerätelinie, die Miele je entwickelt hat.

Autofahren bis 90 – kein Problem!

Ausreichend Geld, körperliche Defizite und der Wunsch, jünger zu sein, als man ist: Nirgends sind die Faktoren, die den Seniorenmarkt auszeichnen, besser erkennbar als beim Auto. Vor Jahren schon haben alle grossen Hersteller begonnen, sich auf den demographischen Wandel auszurichten. Entwicklungszeiten von fünf Jahren und mehr verlangen Weitblick. Der Markt wächst, allein im letzten Jahr haben in Deutschland die 70- bis 79jährigen über 136 000 Autos gekauft, 18- bis 29jährige dagegen nur 91 000. In der Schweiz werden die Neuzulassungen nicht nach Alter erfasst, der Trend dürfte aber der gleiche sein. Darauf deuten auch die jüngsten Zahlen des Bundesamtes für Statistik zum Führerscheinbesitz: Heute haben 40 Prozent der über 80jährigen den Ausweis, doppelt so viele wie 1994. «Die Menschen werden in Zukunft deutlich länger Auto fahren können.» Günther Fischhaber hat sechs Jahre dafür geforscht, dass dies möglich wird, zusammen mit Fahrzeugingenieuren, Designern, Ergonomen und Verkehrspsychologen. Dabei wurden unter anderem der «Fahrerarbeitsplatz aufgeräumt und die Mittelkonsole entfeinert». Will heissen, die Zahl der Bedienungsknöpfe reduziert, die Lesbarkeit der Anzeigeinstrumente verbessert. Ein Kofferraum mit ausfahrbarem Boden macht das Verstauen von Koffern leichter.

Seniorenautos will Fischhaber nicht entwickeln, die Erkenntnisse sollen in alle Modelle einfliessen. Auch bei den älteren Fahrern sind sportliche Autos gefragt. Sportsitze etwa sind bei Senioren beliebt, dank dem besseren Halt wird die (schwächer werdende) Rückenmuskulatur entlastet. Nachlassende Kraft und Beweglichkeit erschweren das Ein- und Aussteigen. Das lässt sich mit der Position und Grösse der Türen oder der Veränderung der Fahrzeughöhe verbessern. «Unser Pilotfahrzeug hebt sich um zwei Zentimeter, wenn die Türen geöffnet werden. Das hilft, ist aber nicht so viel, dass es anderen Menschen auffällt.» Auch hier dürfen keine Alterssignale ausgesandt werden.

Fischhabers 20köpfigem Team gehörten zudem Unfallforscher an. Ab 80 Jahren steigt das Unfallrisiko, weil Sehvermögen und Reak­tionsgeschwindigkeit abnehmen. Diese Defizite sollen ausgeklügelte Assistenzsysteme korrigieren. Einparkhilfen waren gestern, heute helfen Sensoren dabei, die Geschwindigkeit und den Abstand zu vorausfahrenden Fahrzeugen zu steuern, überwachen Kameras die Seitenlinien und halten das Auto auf der Spur. Eine Wärmebildkamera warnt den Fahrer nachts vor Menschen auf der Strasse. Und in Zukunft, geht es nach dem Willen der Audi-Ingenieure, braucht der Fahrer noch weniger aufzupassen: Der Computer wird den Fahrer beim Lenken unterstützen. Kommen Fussgänger zu nahe, wird automatisch gebremst. Radarsensoren und eine Weitwinkelkamera sollen Kollisionen an Einmündungen und auf Kreuzungen vermeiden helfen.

Doch nicht alle können sich mit 80 noch einen neuen Audi leisten. Gemäss dem Bundesamt für Statistik leben 16 Prozent der über 65jährigen unterhalb der Armutsgrenze. Jeder zehnte Rentner in der Schweiz bezieht Ergänzungsleistungen, kann also den Lebensunterhalt nicht mit AHV und Pensionskasse decken, und auch private Organisationen wie Pro Senectute werden häufiger um finanzielle Unterstützung angefragt. Überhaupt handelt es sich beim Shoppingglück der Senioren wohl nur um ein vorübergehendes Phänomen. Verschiebt sich das Verhältnis zwischen Rentnern und Arbeitskräften weiter, wird der finanzielle Spielraum zwangsläufig kleiner.

Vorderhand steht das Zeitfenster aber noch weit offen. Die Generation 50plus wird ihr Geld ausgeben, sie wird sich jung halten wollen, sie wird telefonieren und surfen, sie wird reisen. Davon profitieren sogar die Jugendherbergen. Dank vergünstigten Angeboten ausserhalb der Schulferien steigen dort schon heute vermehrt Senioren ab.

Thomas Schenk ist Journalist und Schriftsteller; er lebt in Zürich.