DAS HALBE GLÜCK
Verfasst für das Literarische Forum in Basel.
Oktober 2015
Leseprobe
Wie schnell die Birke wächst, denkt Anna und legt sich wieder hin. Früher drangen die ersten Strahlen bereits um zehn in ihr Zimmer, nun schafft es die Sonne erst gegen elf über den Wipfel. Das Bäumchen war wild aufgekommen damals, und ihr Vater hatte es mit einem Drahtgitter vor den Fussball spielenden Jungs geschützt. Inzwischen wird jedes Gewitter zur Gefahr. Birken, sagte ein Nachbar an einer Anwohnerversammlung, sind Flachwurzler und haben wenig Stand. Wäre der Baum früher auf einen der Balkone im Innenhof gekracht, hätte es Anna als Schicksal betrachtet. Seit sie verhindert hat, dass er gefällt wird, ist das anders. Jetzt wäre es ihre Schuld.
Nach und nach verschwinden die Umrisse des Baums und Annas Augen schliessen sich. Sie hat es aufgegeben, sich gegen die Beruhigungsmittel zu wehren. Im Land, durch das sie reist, steht der Mond immer im Zenit, und wenn sie aufwacht, klebt die Zunge an ihrem Gaumen, und ihr ist kalt. Sie wünscht sich, Andreas wäre bei ihr. Niemand hat es besser verstanden, ihr warm zu geben. Sie lagen seitlich im Bett, und sie wandte ihm den Rücken zu. Anna und Andreas waren für einander gemacht, ihre Körper passten zusammen, die Vorderseite seines Schädels fand Platz in der Rundung ihres Nackens, seine Brustwarzen berührten ihre Schulterblätter, sein Geschlecht drückte sanft an ihr Gesäss, mit dem Rist streichelte er ihre Fusssohlen.
Eine halbe Stunde wartet Anna auf den ersten Glockenschlag, darauf, dass Autotüren zuschlagen, Menschen ihre Stimmen dämpfen auf dem Weg zur Kirche. Alles, sagte sie einmal zu Andreas, gehorcht einem Plan, egal welchen Ausschnitt der Welt du betrachtest, früher oder später verstehst du die Ordnung, als wären die Dinge mit feinen Drähten verbunden. Und doch ist Anna überrascht, mit welcher Heftigkeit die Glocken an diesem Tag einsetzen, ein Dröhnen, als würde die Erde beben, fünf Minuten, hin und wieder dauert es auch etwas länger, bis die Menschen Platz gefunden haben auf den Holzbänken, erst dann schwingen die Glocken langsam aus, und der Klang verebbt.
Ich wohne an einem Fluss, hatte sie zu Andreas gesagt, als sie nach den vorsichtigen Berührungen ihre Hände klären mussten, wie es weiterging an ihrem ersten Abend. Das war nicht gelogen. Das Rauschen der Strasse begleitet mich Tag und Nacht, sagte sie ein paar Stunden später und strich mit der einen Hand durch seine nassen Haare, während sie mit der anderen die Bettdecke hochzog. Tatsächlich bilden die um den Hof angeordneten Gebäude eine Art Trichter, der die Geräusche der Stadt auffängt und verstärkt. Anna schläft stets mit offenem Fenster, und manchmal spürt sie, wie sie fortgetragen wird vom Sog des Flusses. Nur das Martinshorn kann sie aus dem Schlaf schrecken.
Wir sind halb glücklich, dachte sie, wenn sie Hand in Hand unterwegs waren. Sie teilten alles, beide bekamen das Gleiche und gleich viel, fifty-fifty. Liess Andreas die Badewanne einlaufen, so stieg sie dazu. Sie zählte seine Küsse, und bis am Abend hatte sie jeden erwidert. Beim Essen schöpfte sie sich die gleiche Menge, und weil Andreas ein Mann und meist hungrig war und sie ihren Teller immer leer ass, musste sie sich oft übergeben…