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NZZ am Sonntag Roche Firmenmusik

Spiel mir das Lied von der Rationalisierung

NZZ am Sonntag, 30. März 2003

Das Blasorchester der Roche tritt auf: Wie Angestellte eines Weltkonzerns versuchen, die Zeiten der Lean Production in Harmonie zu überstehen.

Der Uhrzeiger springt auf halb fünf, pünktlich hat der Letzte Platz genommen. Draussen kann sie niemand hören. Die Trompeter, Flötisten, Saxophonisten, Hornisten, Tubisten, die Posaunistin und der Schlagzeuger üben in einem 10 auf 10 Meter grossen Luftschutzkeller, Gebäude B93, Raum 03.50, im Zentrum des Firmengeländes von Roche. Sie üben hinter dicken Betonwänden, im dritten Untergeschoss, und um den Hall zu dämpfen, ist der Boden mit Spannteppich ausgelegt, die Decke und die Wände sind mit Spezialplatten verkleidet.

Sie haben sich abgefunden damit, dass ihr Vereinslokal es nicht mit der strengen Eleganz der Salvisberg-Architektur aufnehmen kann, welche die Industriebauten oberirdisch ausstrahlen. Sie sind zufrieden, dass sie einen eigenen, für ihre Zwecke hergerichteten Raum haben, wo sie die Noten ordentlich lagern können, wo sich Platz für eine Kaffeemaschine findet. Jetzt warten sie gespannt auf den Einsatz. Die Lüftung rauscht monoton, dann hebt der Dirigent den Taktstock, und die Schmusemelodie „Sweet Caroline“ von Neil Diamond erfüllt den Raum.

19 Freizeitmusiker bereiten sich auf den nächsten Auftritt vor, die Generalversammlung der Roche-Aktionäre am 1. April. Keine leichte Aufgabe, denn der Basler Pharmakonzern wird einen Jahresverlust von vier Milliarden Franken präsentieren. Den vermögen die Musiker zwar nicht wegzublasen – mit ihrem entspannten Bigband-Sound sollen sie aber gute Stimmung unter Aktionären und Belegschaft verbreiten, in ihren weissen Hemden und glitzernden Gilets ein wenig Glamour aufscheinen lassen.

Als Günter Schmider, 51, bei Roche einstieg, empfand er ein musikalisches Vakuum, eine befremdende Stille. Es fehlte etwas an Firmenjubiläen, an Weihnachtsessen, Betriebsausflügen. Dem gelernten Drogisten, seit 32 Jahren bei Roche, heute als Inspektor in der Qualitätssicherung der Pharmaforschung tätig, Trompetenspieler seit dem 11. Lebensjahr, wollte es nicht in den Kopf, weshalb Roche kein Firmenorchester hatte. Ein Pharmakonzern mit weltweit gegen 70″000 Mitarbeitern, 5000 allein am Hauptsitz in Basel, aber ohne eigenes Ensemble, ohne Bläserformation. „Ich wollte Roche zum guten Ton verhelfen, die kulturelle Seite bereichern“, sagt Schmider. Er wurde bei der Geschäftsleitung vorstellig, und am 31. Oktober 1988 fand die erste Probe statt; das Datum kennt Schmider noch genau. „Präsident, Blasorchester Roche“ steht auf seiner Visitenkarte.

28 Musikerinnen und Musiker fanden sich zur ersten Probe zusammen. Rasch wuchs das Firmenorchester auf 50 Mitglieder und war damit vorübergehend die grösste Blasmusikformation in Basel. Mittlerweile ist der Bestand auf 30 geschrumpft, mit Schweizern, Deutschen, Franzosen, Engländern und Amerikanern eine internationale Truppe. Bei den Proben sind es meist weniger. Wie in der übrigen Wirtschaft hat Roche die Arbeitsabläufe reorganisiert, Teams neu zusammengesetzt, für viele hat sich das Arbeitspensum erhöht. Das hemmt den Nachwuchs. „Wer sich von morgens bis abends am Arbeitsplatz voll ins Zeug legt, hat nicht immer euphorische Lust, auch noch die Freizeit bei Roche zu verbringen“, sagt Schmider. Globalisierung, Wettbewerbsdruck und Flexibilisierung der Arbeitszeit: Sie machen auch vor einem Firmenorchester nicht Halt.

Viel geredet wird im Luftschutzraum 03.50 nicht. Während der Proben muss ein Kopfnicken, ein Augenzwinkern genügen, vorher und nachher fehlt die Zeit fürs Plaudern. Wie im Industrieprozess kommt man „just in time“, nach dem Üben geht jeder wieder seinen eigenen Weg. Um die zeitoptimierenden Musiker etwas zu Gesprächen zu animieren, wird die Probe seit kurzem für ein paar Minuten unterbrochen, für längere Konversation wird einmal im Jahr ein Ausflug organisiert.

Mathias Usteri, 42, Schlagzeuger, seit zehn Jahren im Orchester, schätzt das durchrationalisierte Musizieren. „So geht kein Abend verloren“, meint der Apotheker. Tagsüber arbeitet er zielstrebig an der Zulassung neuer Medikamente, und jetzt macht er sich genauso effizient mit Jazzbesen und Trommelstöcken am Instrument zu schaffen. Für überbordende Geselligkeit ist kein Platz, nach der Probe macht er sich auf zu Frau und Kind.

Auch dem ökonomischen Grundgesetz von Angebot und Nachfrage kann sich das Blasorchester der Roche nicht entziehen. Als die Zuhörerinnen und Zuhörer bei Auftritten im Personalhaus spärlicher wurden, musste ein Stilwechsel vorgenommen werden. Edgar Kaiser, 41, übernahm 1996 die Aufgabe, das Firmenorchester an die Bedürfnisse des Marktes anzupassen. Damals war noch konzertante Unterhaltungsmusik gespielt worden, Ouvertüren von Jacques Offenbach, Walzer von Johann Strauss. Der Berufsdirigent aus dem deutschen Bad Säckingen, der Einzige, der von Roche für seine musikalische Arbeit finanziell entschädigt wird, trimmt die Firmenmusiker seither auf Swing, Bigband-Sound und moderne Unterhaltungsmusik. Nun stehen die teuren Kesselpauken, die Roche für das Orchester anschaffte, unnütz im Proberaum, wegrationalisiert. Stillgelegt.

„Debi, gib alles“, fordert Kaiser beim nächsten Stück. Deborah Studer, 17, hat einen schweren Job. Bei den chromatischen Tonleitern im russischen Ohrwurm „Säbeltanz“ sind scharfe Akzente gefragt, sie ist die einzige Posaunistin, muss mit den Trompetern mithalten, die sich mittlerweile eine gesunde Röte ins Gesicht gepresst haben. Dass die angehende Chemielaborantin das jüngste Vereinsmitglied ist, macht ihre Sache nicht leichter. Noch vor zwei Jahren konnte Dirigent Kaiser auf fünf Posaunisten zurückgreifen, das beste Posaunenregister, das er je hatte. Unterdessen haben alle die Firma verlassen. Debi ist alleine.

Die steigende Fluktuation zwingt das Blasorchester der Roche zu unkonventionellen Lösungen. Die verlorenen Posaunenstimmen werden von den Hornisten intoniert, die fehlenden Klarinetten durch Querflöten ersetzt. Sie fühle sich mit ihrer Posaune schon etwas unsicher, meint Deborah Studer. Entmutigen lässt sie sich nicht, dafür ist es ihr zu ernst mit dem Musizieren; beim Orchester klopfte sie an, gleich als sie die Zusage für die Lehrstelle erhalten hatte.

Nur wenn sich die Lücken nicht anders schliessen lassen, wird auf externe Verstärkung zurückgegriffen. Den elektrischen Bass spielt an den Konzerten jeweils der Ehemann einer Roche-Mitarbeiterin. Und für das Register der Tuba konnte ein Musiker der Konkurrenz abgeworben werden. Peter Sollberger, 59, hat früher bei Novartis gearbeitet und spielt auch dort noch mit. „Roche probt am Montag, Novartis am Dienstag, so kann ich an beiden Orten spielen. Zu Diskussionen ist es deswegen noch nie gekommen.“ Er sei halt einfach angefressen von der Musik, sagt Sollberger. So angefressen, dass er daneben noch in fünf weiteren Formationen spielt.

Ausstempeln fürs Proben
Lean Production, mit beschränkten Ressourcen einen maximalen Output zu erzielen, darin liegt die Kunst der Blasmusiker von Roche. Eine Kunst, an die sich vielleicht auch Jiang Zemin erinnert. 1999 hatte der damalige chinesische Staatspräsident auf seiner Schweizer Reise Roche einen Besuch abgestattet. Das Blasorchester hatte den „China-Marsch“ eingeübt, und als Zemin über den roten Teppich schritt, wurde ein imposanter Gong angeschlagen. Die „Tagesschau“ des Schweizer Fernsehens strahlte die Szene am gleichen Abend aus, was den medialen Höhepunkt in der Vereinsgeschichte des Blasorchesters bedeutete. Eine musikalische Klimax ging vorletztes Jahr im Kultur- und Kongresszentrum Luzern über die Bühne, beim Ausflug der Roche-Pensionäre. Gänsehaut habe er gehabt, erzählt Günter Schmider, als er im Konzertsaal vor 800 Zuhörern mit seinem Flügelhorn zum bluesigen Solo „Giorgia on my Mind“ ansetzte.

Der „China-Marsch“ gehört seit Jiang Zemin zum Repertoire. Ebenfalls sattelfest ist der „Oberst-Rappo-Marsch“. Das Stück wurde für Markus Rappo komponiert, Milizoffizier, ehemaliger Personalchef und Vereinsförderer seit der ersten Stunde, der noch immer als Verbindungsmann zum Roche-Management amtiert. Im Gegensatz zur Swiss Band, die mit „Volare“ oder „Kameraden der Luft“ ungehemmt ihr – verlustbringendes – Kerngeschäft thematisiert, verzichten die Roche-Musiker darauf, pharmazeutische Loblieder anzustimmen. Entfernt lässt sich „Hello Dolly“ mit dem Gentechnologie-Geschäft in Verbindung bringen, doch seit das geklonte schottische Schaf eingeschläfert werden musste, fehlt auch dieser theoretische Bezug.

Das Engagement der musikalischen Botschafter gilt nicht als Arbeitszeit, sie müssen ausstempeln. Nur wenn sie tagsüber ein Konzert geben, wird dies als produktive Zeit angerechnet, zum Beispiel vor Weihnachten. Dann offeriert die Firma zudem ein Mittagessen im Personalrestaurant. Die unternehmensfreundliche Haltung haben die Mitglieder verinnerlicht. „Die Arbeit darf nicht unter dem Musizieren leiden, für meinen Boss ist es in Ordnung, solange ich meine Arbeit mache“, sagt Anne Castleton, 50, Querflöte. Fällt eine Sitzung auf eine Probe, versucht die Kommunikationsfachfrau der Roche diese zu verschieben, sonst fällt die Musik aus. „Wenn ich wählen muss, hat die Arbeit immer Priorität.“

Früher, da waren die Chefs noch stolz gewesen, wenn ihre Untergebenen Marschmusik ertönen liessen. Etwa als Paul Sacher, Orchesterdirigent, Kunstmäzen und Vertreter der Roche-Familienaktionäre, an einer Generalversammlung plötzlich vor die Musiker trat und für den Firmenchef Fritz Gerber aus dem Emmental den Berner Marsch erklingen liess. Die Zeiten haben sich geändert, musikalischer Dienst am Unternehmen bringt kaum Meriten ein. Gefragt ist Engagement am Arbeitsplatz. Rückbesinnung auf das Kerngeschäft.

Lieber nicht fusionieren
In den fünfzehn Vereinsjahren ist noch nie eine Probe ausgefallen. Keine einzige. Und wer verhindert ist, hat sich abzumelden. „Dirk hat Schicht“, informiert Präsident Schmider die Firmenmusiker, „Volker ist auf Geschäftsreise“, sagt Schmider. Auch Volker: abwesend. Volker ist im Vitaminbereich tätig, den Roche unlängst verkauft hat. Die Musiker hoffen, dass der Trompeter dem Orchester erhalten bleibt, aber eine Arbeitsplatzgarantie ist mit dem Musizieren nicht zu holen.

Durch eine überdurchschnittliche Präsenz fallen die Pensionierten auf, sie machen ein Viertel der Mitglieder aus, und sie geben alles für den Verein: Der 70-jährige Meinrad ist eigens früher aus den Ferien im Wallis zurückgekehrt, um die Probe nicht zu verpassen. Salvatore, auch er ein Roche-Veteran, ist an Krücken gekommen, vor einer Woche noch hatte er im Spital gelegen. „Nur so, wenn zu den Proben wie zu den Anlässen alle Mitglieder anwesend sind, ist eine maximale Leistung zu erarbeiten“, heisst es in den Vereinsstatuten.

Im Luftschutzkeller lässt Dirigent Kaiser inzwischen „Just a Gigolo“ intonieren. Direkt nach der Arbeit den Lebemann zu spielen, fällt schwer. Doch: Das einsetzende Trompetensolo vermag die Stimmung zu heben, und plötzlich scheinen die vibrierenden Saxophonstimmen den Übungsraum, diesen 10 auf 10 Meter grossen schallisolierten Bunker, in eine rosarote Harmonie zu tauchen. Heiterkeit macht sich breit, die Kraft der Musik wird greifbar; man beginnt plötzlich zu ahnen, weshalb die Musiker ihre knappe Freizeit im Firmenrahmen verbringen.

Diese magischen Momente vermögen den Mitgliederrückgang allerdings nicht zu stoppen. Da könnte der Zusammenschluss mit der Novartis-Musik Basel eine Lösung sein. Schliesslich hat der Konkurrent während der letzten Monate fast ein Drittel der Roche-Aktien aufgekauft und versucht damit, eine Fusion der beiden Pharmahersteller zu erzwingen. Doch Vereinspräsident Schmider winkt ab: „Das Beispiel Novartis zeigt, wie schwierig eine solche musikalische Annäherung ist.“ Zwei Orchester zu verschmelzen, scheint delikater, als zwei Firmen mit Tausenden von Angestellten zusammenzubringen. Als Ciba und Sandoz 1996 fusionierten, musizierten die beiden Firmenorchester fürs Erste getrennt weiter. Fast zwei Jahre verstrichen, bis man sich über die Besetzung von Präsidium und Dirigentenposten einigen konnte. Schliesslich verzichtete der Präsident der Ciba-Musik auf das Amt, unter der Bedingung, dass die Ciba-Dirigentin die musikalische Leitung des zusammengelegten Ensembles übernehmen konnte. Auch zahlenmässig war die Fusion kein Erfolg, von ursprünglich 70 Musikern beider Orchester sind heute noch 29 übrig.

Roche setzt auf Eigenständigkeit. Und pflegt einen pragmatischen Ansatz. Für eine Bigband reichen 17 Musiker, da verfügt man also noch über eine gewisse Personalreserve. Zudem wäre es für Dirigent Günter Schmider auch akzeptabel, mit einem geringeren Bestand anzutreten. Im Extremfall als Quartett, „denn für kleine Besetzungen gibt es wunderbare Literatur“, schwärmt Schmider. Dann allerdings wäre die Schmerzgrenze erreicht. Weiter rationalisieren lässt sich eine Firmenmusik nicht.