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NZZ Folio Schwarzfahrer

Jagd auf Schwarzfahrer

NZZ Folio, Oktober 2008

Wie oft und an welchen Haltestellen gibt es Billettkontrollen? Wie viele Kontrolleure sind nötig, um Schwarzfahrer abzuschrecken? Ein Tramführer gibt Auskunft.

© Nik Hunger
© Nik Hunger

Tramführer haben ein besonderes Verhältnis zu Schwarzfahrern. Nicht, dass ich die Regelverstösse begrüsst hätte. Schliesslich hat jeder zahlende Fahrgast indirekt auch meinen Lohn finanziert. Und doch haben mir die Menschen, die in die Falle tappten, leid getan. Es sind ja nicht nur die fundamentalen Systemverweigerer, die ohne gültiges Ticket unterwegs sind. Es sind auch ahnungslose Touristen, verwahrloste Menschen oder solche, die das Tram gerade noch erstürmen konnten, denen es aber nicht mehr zum Billettkauf reichte.

Schwarzfahren ist wohl so alt wie der öffentliche Verkehr selbst. Und lange Zeit war es auch sehr einfach – so lange nämlich, bis sich die Wagentüren der Trams automatisch schlossen. Sportliche, aber zahlungsunwillige Fahrgäste konnten sich aufs Trittbrett stellen – wenn sich ein Kontrolleur näherte, sprangen sie ab. Dieses simple, eigentlich zum Einsteigen konzipierte Holzstück hat bis in die Wirtschaftswissenschaften hinein Karriere gemacht: als Trittbrettfahrer- oder Freerider-Problem. Es kann überall dort auftreten, wo Einzelne von einer Dienstleistung zu profitieren vermögen, ohne dafür zu bezahlen. Aus individueller Sicht und rein finanziell betrachtet, ist es vernünftig, solche Schlupflöcher zu nutzen und schwarzzufahren. Doch es funktioniert nur, wenn die andern brav bezahlen. Achten alle Akteure auf den eigenen Vorteil, dann fehlen die Einnahmen, und das System gerät in Gefahr.

Glaubt man der Statistik, steht es gut um die Moral in Zürich. Gerade 0,9 Prozent der Fahrgäste der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) waren letztes Jahr ohne gültigen Fahrausweis unterwegs; seit ein paar Jahren pendelt die Quote um 1 Prozent. Die Zahl mag klein erscheinen, doch hochgerechnet auf 310 Millionen Fahrgäste, die die VBZ jährlich transportieren, sind das 2,8 Millionen Schwarzfahrer. Das wirkungsvollste Instrument, diese Menschen zum Kauf eines Tickets zu motivieren, sind Kontrollen. Dabei müssen Stichproben genügen; sämtliche Fahrgäste zu überprüfen, wäre unverhältnismässig teuer.

Die Devise, die in Zürich gilt, ist einfach. «Wir kontrollieren so häufig wie möglich», sagt André Meier, Leiter Netz der VBZ. 80 Kundenberater, so heissen die Spezialisten in Zürich offiziell, sind ihm unterstellt. Letztes Jahr haben sie 3,2 Millionen Fahrgäste kontrolliert; im Jahr 2000 waren es nur 2 Millionen gewesen. Nicht, dass Meier mehr Personal zur Verfügung hätte, vielmehr ist die Effizienz verbessert worden, die Kundenberater wurden von Papierarbeit entlastet, und sie werden vermehrt auf gut frequentierte Linien geschickt. Den Dienst verrichten sie in Gruppen von zwei bis zehn Personen. Manchmal bekommen die Kontrolleure nur grobe Gebietsvorgaben, zum Beispiel «Raum Bellevue bis Rehalp». Manchmal werden sie punkt- und zeitgenau eingesetzt, etwa um zwischen 12.10 und 12.20 Uhr zwei Kurse einer bestimmten Linie zu prüfen, auf der Schüler manchmal zum Spass an Notbremsen ziehen.

Unterstützung erhält André Meier durch die Informatik. Auf kleinen Computern protokollieren die Kundenberater ihre Arbeit und erfassen die genaue Uhrzeit, die Linie, die Haltestelle, die Anzahl der Fahrgäste und Schwarzfahrer. Diese Daten werden jeden Abend eingelesen und automatisch ausgewertet. So weiss André Meier schon am nächsten Morgen, wo die Zahlungsbereitschaft gerade besonders tief liegt und wo am nächsten Tag die Kontrollen verstärkt werden müssen. Das kann in Problemquartieren sein, aber auch in reicheren Wohngebieten.

Seit fünf Jahren ist dieses Computersystem im Einsatz, zuvor haben Erfahrung und Gefühl darüber entschieden, wo man die Kontrolleure hinschickte. Die Zahl der Schwarzfahrer, die erwischt werden, ist seither zwar nicht merklich gestiegen, «aber jetzt ist alles viel transparenter, und wir können schneller reagieren», sagt André Meier.

Die Kontrollen finden nicht nur an den neuralgischen Punkten statt. Da sich die Problemzonen laufend verschieben, ist auf dem ganzen Liniennetz Präsenz verlangt. «Wird in einem Gebiet länger nicht kontrolliert», sagt Meier, «steigt die Quote sofort wieder an.» Schwarzfahrer beobachten genau, und sie reagieren schnell.

Nicht immer sind Kontrollen möglich, etwa wenn ein Tram zum Bersten voll ist. Abends um halb sechs zwischen dem Paradeplatz und der Bahnhofstrasse ist eine schlechte Zeit, um die Kunden zu beraten, eine gute Zeit hingegen, um schwarzzufahren. Und fällt irgendwo ein Fahrer aus, dann werden Kontrolleure abgezogen. Um einen reibungslosen Betrieb zu ermöglichen, sind alle auch zum Fahren von Trams und Bussen ausgebildet.

Manfred Ritschel findet es nicht gut, wenn Kontrolleure für andere Aufträge eingesetzt werden. Der deutsche Statistiker berät Transportunternehmen bei der Planung ihrer Kontrollen. «Diese Aufgabe ist viel zu wichtig, da müssen sich die Prüfkräfte ganz darauf konzentrieren können.» Im andern Fall, und das ist das Problem, würde sein ausgeklügeltes statistisches System durcheinandergeraten. Denn er hat eine Methode entwickelt, die den Bedarf an Kontrolleuren auf die Person und die Stunde genau errechnet.

Ritschels Modell setzt sich aus mathematischen Funktionen zusammen, aus Exponentialgleichungen und anderen Gleichungssystemen. Diese hat er iterativ aus empirischen Daten entwickelt, das heisst, durch mehrmaliges Wiederholen an die reale Situation angepasst. Um die Wirklichkeit des Schwarzfahrens abzubilden, benötigt er bis zu fünfzehn verschiedene Faktoren, von den fixen und variablen Kosten der Kontrollen über die Gesamteinnahmen aus den Bussen bis zur Schwarzfahrerquote.

«Ziel der Berechnungen ist die Ermittlung des optimalen Kontrollgrads», sagt Ritschel, «das heisst, wie viele Fahrgäste tatsächlich kontrolliert werden müssen.» Es geht dabei nicht darum, möglichst viel Einnahmen aus Bussen zu generieren. Der optimale Punkt liegt dort, wo «der gesamte Verlust aus Fahrgeldhinterziehung und die dazu notwendigen Prüfkosten am kleinsten sind», erklärt Ritschel. Geld lässt sich auch im optimalen Fall keines verdienen, die Kosten sind stets höher als die Busseneinnahmen. Dass sich Kontrollen trotzdem auszahlen, liegt daran, dass sie Schwarzfahrer zum Kauf eines Tickets bewegen.

Die Werte, die Ritschels Modell ausspuckt, liegen meist zwischen 1 und 4 Prozent. Diesen Anteil aller Fahrgäste muss ein Unternehmen innerhalb eines Jahres kontrollieren, um die Balance zu finden zwischen Busseneinnahmen, Abschreckung und den dafür notwendigen Prüfkosten. Das deutsche System geht noch weiter: Nebst der Anzahl der nötigen Kontrollen ermittelt es auch die optimale Verteilung der Kontrolleure auf dem Liniennetz, je nach Fahrgastaufkommen und Schwarzfahrerquote. In einem weiteren Schritt lässt sich dann der zeitliche Einsatz der Kontrolleure planen. In Dresden, Düsseldorf, Nürnberg und einigen anderen deutschen Städten wird das Modell angewendet. Anfragen hat Ritschel auch aus der Schweiz erhalten, umgesetzt wurde sein Konzept hierzulande noch nicht.

Vor fünf Jahren machten die SBB eine beunruhigende Feststellung. Allein im Regionalverkehr, das ergab eine Berechnung, prellten die Schwarzfahrer die Bundesbahnen um jährlich über 50 Millionen Franken. «Da war klar, dass wir etwas tun mussten», erinnert sich Roman Knecht. Rasch wurde die Abteilung Einnahmensicherung geschaffen, ein eigenständiger Bereich, dem Knecht vorsteht. Jetzt laufen dort sämtliche Informationen über «Reisende ohne gültigen Fahrausweis» zusammen, wie die Schwarzfahrer bei den SBB heissen. Knechts 30-köpfiges Team treibt die Bussen ein, was vorher nicht konsequent genug erfolgt war. Die 400 Kontrolleure widmen sich seither ganz dem Aufspüren von Schwarzfahrern und markieren Präsenz. Dass seit Anfang Jahr die Kontrollprotokolle automatisch ausgewertet werden, hat die Effizienz zusätzlich gesteigert.

Inzwischen hat sich die Quote der Schwarzfahrer mehr als halbiert, auf 1,35 Prozent. Aber noch immer hängt der Einsatzplan der Kontrolleure vom Bauchgefühl ab. Das soll sich ändern. «Um wettbewerbsfähig zu sein», sagt Knecht, «brauchen wir ein exaktes Modell.» Das System, das der deutsche Manfred Ritschel entwickelt hat, kommt nicht in Frage; die Daten, die die SBB erheben, lassen das nicht zu. Deshalb soll ein eigenes Optimierungsinstrument ent­wickelt werden, auf der Basis der effektiv gefahrenen ­Zugstunden. Dadurch soll erreicht werden, «dass unser Kontrollpersonal vor allem auf den stark frequentierten Strecken eingesetzt wird», sagt Knecht. Auch wenn die Zahl der Schwarzfahrer noch weiter sinken sollte: Knecht macht sich keine Illusion über die Fahrgäste. «Unsere Kunden lösen das Billett nicht, weil sie davon ausgehen, dass es zum Zugfahren wirklich nötig sei. Sie kaufen es, damit sie es dem Kontrolleur zeigen können.» Altruismus ist nicht im Spiel.

Umso wichtiger ist die «generalpräventive Wirkung» der Kontrollen, sagt Knecht. Dazu gehört, dass die Fahrgäste auf den Regionallinien immer wieder überrascht werden. So wurden schon Ankündigungen im Lokalradio gemacht, auf welchen Strecken gerade verstärkt Kontrollen durchgeführt werden – der Anteil der Schwarzfahrer ging aber nur um 0,3 Prozentpunkte zurück. Eine markante Änderung war die 2006 von den SBB, den VBZ und anderen regionalen Verkehrsunternehmen eingeführte Gebührenstaffelung. Seither müssen Schwarzfahrer ihre Personalien angeben, beim ersten Mal bezahlen sie 80 Franken, beim zweiten Mal 120 und beim dritten Mal 150 Franken. Weniger Schwarzfahrer, sagt Knecht, seien deshalb nicht unterwegs, «aber immerhin sind dank den höheren Bussen unsere Einnahmen gestiegen».

Lohnt sich Schwarzfahren mit den neuen Gebühren überhaupt noch? Für Pendler nicht, meint Knecht. Bei Gelegenheitsfahrern hingegen sei die Wahrscheinlichkeit gering, in eine Kontrolle zu geraten, «entsprechend grösser ist hier die Versuchung, ohne Fahrschein zu fahren». Es werde immer Menschen geben, meint Knecht, «die sich einen Sport daraus machen und das System mit all seinen Schwachpunkten zu ihren Gunsten ausnützen».

Wie bei anderen Sportarten ist auch beim Schwarzfahren eine gut entwickelte Beobachtungsgabe von Vorteil. Wer die Augen offenhält, dem fallen an einer Haltestelle beispielsweise zwei, drei Männer auf, die zusammenstehen, an deren Gurt ein Vierkantschlüssel baumelt und die einen länglichen Computer in der Hand tragen, das mobile Eingabegerät. In solchen Situationen verlässt der Routinier das Tram. Letztes Jahr war es noch einfacher, die VBZ-Berater zu erkennen, denn damals waren sie allesamt in Uniform unterwegs. Für die Motivation der Kontrolleure soll das nicht förderlich gewesen sein, und so werden seit Anfang dieses Jahres wieder rund die Hälfte der Einsätze in Zivil verrichtet. Bei Schwerpunktkontrollen allerdings, bei denen auch die aussteigenden Passagiere überprüft werden, gibt es kein Entkommen. Hier ist die Quote der Schwarzfahrer denn auch bis zu dreimal höher als bei den Stichproben.

Der Sport lässt sich auch in der Gruppe ausüben, in Form einer Schwarzfahrerversicherung. Statt Fahrkarten zu kaufen, zahlen die Mitglieder einen bestimmten Betrag in einen Pool, aus dem die Bussen bezahlt werden. In den 1990ern hatten sich Studenten in Zürich auf diese Weise organisiert. Die Selbsthilfeeinrichtung verschwand bald wieder, wie in vielen anderen Städten auch. Eine Versicherung hat sich aber bis heute behauptet: Plankakassan in Stockholm. Umgerechnet 9 Franken kostet die Versicherung für eine Woche, 18 Franken im Monat. Zum Vergleich: Eine Einzelfahrt mit der U-Bahn kostet in der schwedischen Hauptstadt rund 5 Franken, die Wochenkarte 45 Franken. Wer erwischt wird, bezahlt einen Selbstbehalt von 18 Franken an Plankakassan, die Busse von 200 Franken wird einem aus dem Topf zurückerstattet; es genügt, die Quittung einzuschicken. Man kann sich so oft erwischen lassen, wie man will. 300 bis 400 Mitglieder sind im Schnitt angeschlossen, pro Woche fallen bis zu fünf Bussen an. Dass die Rechnung aufgeht, spricht nicht für die Ernsthaftigkeit der schwedischen Ticketkontrollen.

Plankakassan ist nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einem höheren Ziel. Die Initianten wollen, dass der öffentliche Verkehr in Stockholm gratis angeboten wird. Wobei gratis natürlich relativ ist, denn tatsächlich müssten die Kosten in diesem Fall von den Steuerzahlern aufgebracht werden. Dem Ruf nach Gratis-ÖV sind bis heute wenige Städte gefolgt. Im belgischen Hasselt, einer Stadt mit 70 000 Einwohnern, können die Busse seit elf Jahren umsonst benützt werden – und sind seither meistens überfüllt. In der Schweiz hat das Prinzip, mit Ausnahme von ein paar Tourismusorten, keine Chance gehabt. 1972 war in Basel erstmals eine Initiative für ein Gratistram abgelehnt worden. Nach einem heissen Sommer oder einem feinstaub­reichen Winter wird die Idee bisweilen wieder aufgegriffen, um dann von Volk oder Parlament abgelehnt zu werden, wie diesen Februar im Kanton Genf.

Solange es für den öffentlichen Verkehr ein Ticket braucht, wird es immer auch Schwarzfahrer geben. Und so lange werden sich jene Passagiere ärgern, die für die Dienstleistung bezahlen. Noch ärgerlicher – und darunter leiden die Tramführer besonders – ist aber eine andere Kundengruppe. Ich spreche von jenen Menschen, die das Tram auf keinen Fall verpassen wollen, aber keine Strecken- oder Jahreskarte besitzen. Als rechtschaffene Naturen springen sie nicht einfach «schwarz» auf, sondern lösen in aller Ruhe ein Ticket, stehen also vor dem Automaten und hantieren mit ihrem Kleingeld. Das funktioniert nur, wenn jemand anderes stur das Trittbrett und damit das ganze Tram blockiert. Fünf oder zehn gefühlte Minuten lang bin ich jeweils auf diese Art aufgehalten worden. Da sind mir Trittbrettfahrer, ich muss es gestehen, lieber gewesen.