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NZZ Folio Seelennot

Krebs in der Seele

NZZ Folio, Januar 2011

Das Leiden psychisch Kranker ist für Aussenstehende oft schwer begreifbar. Viele Betroffene verlieren alles: Partner, Kinder, Freunde und Arbeit. Vier Schicksale.

NZZ Folio Seelennot Sadnesscc.large frankieleon

Depression

Regina, 43, leidet seit 23 Jahren an einer Depression. Sie hat mehrere Suizidversuche unternommen und ist arbeitsun­fähig. Zum Zeitpunkt des Gesprächs befand sie sich in der Psychiatrie.

«‹Instabile Persönlichkeit› lautete die Diagnose. Das war 1988, nach meinem ersten Selbstmordversuch. Ich war 21 und hatte 80 Tabletten Fingerhut geschluckt. Das nötige Gegengift mussten sich die Ärzte in Westberlin besorgen. Ich bin im Osten Deutschlands aufgewachsen. Nach zwei Monaten arbeitete ich wieder als Krankenpflegerin. Das zweite Mal tat ich es im Jahr darauf, nach einem Flugzeugabsturz in meiner Nähe. Unser Spital war für den Flughafen Schönefeld zuständig, wo es passiert war, ich arbeitete auf der Intensivstation. Mein Bruder hat den Absturz auch nicht ertragen, er war bei der Feuerwehr und sah die verstümmelten Leichen. Danach erhängte er sich. Das liegt bei uns in der Familie.

1991 kam ich in die Schweiz und arbeitete auf der neurochirurgischen Abteilung am Universitätsspital Zürich. Nach ein paar Monaten stürzte ich wieder in eine Depres­sion und ging zu einem Psychiater, dem gleichen, der mich noch heute behandelt. Zur ambulanten Behandlung gehörte eine Gesprächstherapie, und ich erhielt Medikamente, die meine Stimmung ausgleichen sollten. Um mich zur Intensivkrankenpflegerin ausbilden zu lassen, wechselte ich 1992 ans Kantonsspital Aarau. 1996, kurz nach der Geburt unseres Sohnes, liess mein Mann sich scheiden; bis 2004 lebte der Sohn bei mir, seither bei seinem Vater. 1996 hatte ich eine weitere Depression und machte eine Dämmerkur: Während dreier Wochen erhielt ich Beruhigungsmittel, hochdosiert über eine Infusion, so dass ich die ­ganze Zeit döste. Das soll das Kreisen der Gedanken unterbrechen. Bei mir half es nichts.

1997 liess ich mich zum ersten Mal in eine psychiatrische Klinik einweisen, nach Oetwil am See. Dort blieb ich zwei Monate. Die nächsten zehn Jahre war ich dreizehn Mal in dieser Klinik. Die depressiven Phasen wurden nun häufiger, und sie dauerten länger, bis zu drei Monate. Manchmal ging ich rechtzeitig in die Klinik, manchmal war es nach einem Suizidversuch. Irgendwann ist die Krankheit Depression nicht mehr zu ertragen. Diese unendliche ­Leere, der Wunsch nach Erlösung. Nach einem Selbstmordversuch kam ich jeweils für ein, zwei Tage in ein Isolationszimmer, darin ist nur eine Matratze, damit man sich nichts antun kann. Und eine Wandtafel mit Kreide, um die Gedanken zu notieren. Ich schrieb Gedichte. Eines heisst ‹Krebs in der Seele›, das beschreibt, was Depression für mich bedeutet. Über all die Jahre sind genug Gedichte entstanden, dass ich zwei Bände veröffentlichen konnte.

Der Tagesablauf in der Klinik ist immer derselbe, man braucht eine klare Struktur, das heisst alles stets zur gleichen Zeit, das Essen, Gruppen- und Einzelgespräche, Bewegungstherapie und Spaziergänge. Danach hatte ich jeweils ein paar Monate Ruhe, bis der nächste Absturz kam. Manchmal hatte ich auch ein Jahr Pause, aber das war das Höchste. Wir versuchten es mit unterschiedlichen Medikamenten und unterschiedlicher Dosierung. Einmal machte ich einen Schlafentzug und wurde mehrere Tage lang am Einschlafen gehindert. Auch das brachte mir nichts.

Mit der Arbeit auf der Intensivstation wurde es schwierig. Deshalb wechselte ich 1997 ans Ambulatorium der Kardiologie, später betreute ich auch die Herzschrittmacherpatienten. Weil auch hier die Belastung zu gross wurde, wechselte ich 2006 auf das Sekretariat der Privatabteilung Medizin, ein Fünfzig-Prozent-Pensum.

2007 machte ich eine dreimonatige Verhaltenstherapie. In diesem stationären Programm lernte ich mit Spannungen umzugehen, ohne mich zu verletzen. Wenn ich verzweifelt war, hatte ich mich zuvor mit der Rasierklinge geschnitten – nicht um mich umzubringen, ich wollte mich spüren. Seither presse ich mit der Hand auf einen Igelball, wenn ich es nicht mehr aushalte, oder rieche an Tigerbalsam.

Im Herbst 2008 begann ich mit der Elektrokrampftherapie, abgekürzt EKT, die kann bei therapieresistenten Depressionen wie der meinen helfen. Schon nach fünf Behandlungen ging es mir besser. Die Vorurteile gegen EKT sind längst widerlegt, vom Strom bekommt man nichts mit, man schläft ja, und gegen den Muskelkrampf gibt es krampflösende Mittel. Bis im Sommer 2009 hatte ich rund siebzig Behandlungen und nahm zwanzig Kilogramm ab, wegen der EKT brauchte ich weniger Medikamente. Ganz weg waren die depressiven Schübe zwar nicht, aber sie dauerten nur noch drei bis sechs Wochen.

Doch dann ging es wieder richtig abwärts, vielleicht weil ich wegen der Arbeit weniger EKT-Behandlungen machte. Ich schnitt mich, das erste Mal seit der Verhaltenstherapie, schliesslich schluckte ich Tabletten. Doch man entdeckte mich auch dieses Mal rechtzeitig. Zusätzlich zur EKT erhielt ich nun Lithium, aber was bei anderen Patienten funktionierte, führte bei mir zu Gedächtnisschwierigkeiten, und ich bekam Mühe mit der Konzentration. Wir unterbrachen die Behandlung, ich erhielt mehr Medikamente. Bis Ende Jahr nahm ich wieder fünfzehn Kilo zu.

Im März 2010 bekam ich das erste Mal die volle IV-Rente. Es ging nicht mehr mit der Arbeit, mir waren zu viele Fehler unterlaufen. Im Oktober fiel ich wieder in ein Loch und liess mich in die Klinik Königsfelden einweisen. Ich erhielt ein neues Medikament, das vermag die Wirkung der Antidepressiva, die ich nehme, zu steigern. So kam ich am Morgen aus dem Bett. Nach drei Wochen konnte ich nach Hause. Ich hoffe, die Wirkung hält an.»

Die Gedichte von Regina Siegel sind unter dem Titel «Tagebuch einer Depression» bei Books on Demand erschienen.

Soziale Phobie

Hans, 58, leidet seit über 40 Jahren an einer sozialen Phobie. Er ist arbeitsunfähig und lebt in einem Übergangswohnheim für Suchtmittelabhängige.

«Mit 16 Jahren war ich zum ersten Mal beim Psychiater. Das war 1968, ich hatte fürchterliche Angst in der Schule, fühlte mich von den Lehrern und den Schülern permanent beobachtet. Das ging so weit, dass sich meine Beine blockierten und ich nicht mehr richtig gehen konnte. Der Psychiater dia­gnostizierte eine Entwicklungsstörung und verschrieb mir ein Beruhigungsmittel. Nach der Schule fing ich eine Schriftsetzerlehre an, aber auch da hielt ich die Angst nicht aus, weder an der Gewerbeschule noch im Betrieb. Ich war überzeugt, den Anforderungen nicht zu genügen, von ­allen abgelehnt zu werden, wegen meiner Art zu sprechen, meines Aussehens, obwohl ich durchaus athletisch war. Nach drei Monaten brach ich die Lehre ab. 1969 begann ich das Gymnasium, vom ersten Tag an hatte ich Angst, ins Schulzimmer zu gehen. Das wurde jeden Tag schlimmer, bis ich aufhörte.

Ab 1971 besuchte ich ein privates Gymnasium. Nach ein paar Monaten war die Angst zu gross, aber ich sagte niemandem etwas. Statt in die Schule zu gehen, fuhr ich in eine andere Stadt oder zum Flughafen. Menschenmengen machen mir nichts aus, da falle ich nicht auf. 1973 sagte ich Familie und Freunden eines Tages, ich hätte die Matura bestanden, was nicht stimmte. Dann begann ich an der Uni Basel zu studieren, als Gasthörer. In den Juravorlesungen waren viele Leute, da ging es für mich. Gleichzeitig bereitete ich mich selbständig auf die Matura vor, kam aber wegen meiner Angstattacken nur langsam voran. Das nötige Geld verdiente ich mir auf dem Bau, später mit Aushilfsjobs bei der Ciba. Auch dort hatte ich mit Ängsten zu kämpfen, aber dank guten Leistungen, Fleiss und Gehorsam hatte ich das Gefühl, meine Handicaps ausgleichen zu können.

1978 begann ich eine Psychoanalyse. Die brach ich nach zehn Monaten ab. Der Psychiater meinte, solange ich Alkohol tränke, bringe das nichts. Wann genau ich mit Alkohol begonnen habe, weiss ich nicht mehr. Zwei Glas Wein, dann wagte ich mich aus dem Haus, aber damals trank ich noch nicht übermässig, das kam erst später. 1980, mit 28, lernte ich meine erste Freundin kennen, nach einem halben Jahr hatte ich unerträgliche Angst um sie. Wenn ich wusste, dass sie im Auto unterwegs war, suchte ich die Stras­sen ab. Hörte ich eine Sirene, rannte ich dem Fahrzeug nach. Die Verlustangst habe ich von meiner Mutter übernommen: Als ich klein war, schickte sie mich manchmal los, um meinen Vater zu suchen. Wenn der nicht pünktlich von der Arbeit kam, war sie überzeugt, dass ihm etwas Schlimmes passiert sein musste.

All die Jahre bereitete ich mich ernsthaft auf die Matura vor und war weiterhin Gasthörer an der Uni. 1988 bestand ich die Gesamtprüfung der Eidgenössischen Matura im ersten Anlauf. Danach begann ich zum ersten Mal regulär zu studieren, zwei Jahre Medizin, dann Mathematik, Chemie und Biologie für das Lehramt, trotz den Ängsten vor der Schule. Meine Lehrer waren immer Vorbilder für mich, weil sie sehr viel wussten. Das wollte ich auch.

Bis 1992 blieb ich mit meiner Freundin zusammen, auch wenn die Angst unsere Beziehung belastete. Angstfreie Phasen gab es nicht, aber es war nicht immer gleich schlimm. Nach der Trennung wurde ich zum Pegeltrinker: täglich vier Flaschen Rosé, in kleinen Schlucken über den Tag verteilt. 1993 ging ich für sechs Wochen in eine psychiatrische Klinik, erhielt Beruhigungsmittel sowie Einzel- und Gruppentherapie. Danach trank ich weiter, kam nochmals in die Klinik, begann wieder zu trinken. 1994 schloss ich die Fächer fürs Lehramt ab, danach hätte ich das Oberseminar machen, also vor einer Klasse stehen müssen, das war unmöglich.

1996 machte ich in der Klinik im Hasel eine zehnmonatige Suchttherapie, 1997 zog ich für eineinhalb Jahre ins Forelhaus in Zürich, eine Art WG für Menschen mit Suchtproblemen, die von Sozialpädagogen und Psychologen betreut werden. Nun fand ich eine administrative Stelle im Rektorat einer Hochschule. Bis 2005 war ich trocken, dann lernte ich eine Frau kennen. Nach fünf Monaten war die Angst wieder da, alles begann von vorn: Auf der Suche nach ihr rannte ich durch die Stadt, begann zu trinken, liess mich in die Psychiatrische Uniklinik einweisen. Die Medikamente und Therapien halfen nichts, ich stürzte wieder ab.

2008 kam ich ins Sanatorium Kilchberg. Hier hatte ich eine Verhaltenstherapie, vor der ich nicht ausweichen konnte. Dazu gehörte die sogenannte Exposition. Ich musste mich meinen Ängsten aussetzen, also in Gruppen und an externen Veranstaltungen über meine sozialen Ängste reden. Zur Behandlung der Verlustangst fuhr der Therapeut mit mir nach Zürich, ans Central. Hier musste ich die Sirenen von Sanität oder Feuerwehr aushalten, ohne den Fahrzeugen hinterherzurennen. Ich schwitzte und hyperventilierte. Drei Monate dauerte das Programm, aber danach waren die Ängste rasch wieder da. Im Frühling 2009 ging meine Freundin zurück nach Australien, ich liess mich nochmals für drei Monate nach Kilchberg einweisen.

Ende 2009 musste ich zum Vertrauensarzt meines Arbeitgebers. Er empfahl mir, die Arbeit niederzulegen. Seit September 2010 erhalte ich eine IV-Rente und wohne wieder im Forelhaus. Seit zehn Monaten habe ich nichts getrunken. Ich nehme Seralin, ein Antidepressivum, und mache weiterhin Verhaltenstherapie. Am Morgen gehe ich rennen oder ins Krafttraining, am Nachmittag bin ich an der Uni. Seit September studiere ich Biologie und Politik, da kann ich in eine andere Welt eintauchen, denke nicht ständig an meine Ängste. Aber jeder Tag ist eine Exposition für mich. Wenn ich die Treppe zur Uni hochsteige, zittern meine Beine. Ich möchte den Bachelor machen, danach vielleicht unterrichten, wenn es meine Ängste zulassen.»

 

Burnout

Oliver, 47 Jahre alt, hat im Sommer 2010 ein Burnout erlitten. Er macht zurzeit eine stationäre Therapie.

«Schlafstörungen hatte ich erstmals 2008. Wegen der Arbeit. Ich hatte die Aufgabe, die Hardwareverwaltung einer Firma weltweit neu zu organisieren, also Computer, Drucker und so weiter. Doch ich kam nicht vorwärts, die Ländergesellschaften lieferten mir nicht die nötigen Informa­tionen, es war ein Chaos. Ich will sauber arbeiten, aber es war nicht möglich. Ich konnte nicht mehr durchschlafen, war morgens müde. Tagsüber stürzte ich mich in die Arbeit, abends war ich kaputt. Ich dachte, mit 45 Jahren sei das normal.

Anfang 2010 konnte ich intern den Job wechseln. In der neuen Funktion sollte ich externe Spezialisten für laufende Projekte suchen, stets für befristete Einsätze. Ich kam zwischen Hammer und Amboss: Die Projektleiter brauchten rasch Verstärkung, die Personalentscheidungen aber trafen andere. Manchmal dauerte es drei Wochen, bis ich den Bescheid erhielt, die vorgeschlagene Person komme nicht in Frage. Ich musste wieder vorn beginnen, der Projektleiter tobte. Ich spürte, wie es immer enger wurde, ich arbeitete länger, auch am Wochenende. In einem Teammeeting im Juni 2010 hielt ich es nicht mehr aus und liess meine Wut raus, ungewöhnlich für mich, denn ich bin sehr kon­trolliert. Ich sagte, mir sei alles egal, stand auf und verliess den Raum. Meine Chefin verwies mich an die Burnoutstelle der Firma. Sie hat das gleich richtig erkannt. Ich rief den externen Psychologen an, er gab mir ein paar Tips, wir vereinbarten einen Termin. Zwei Wochen lang ging es wieder, dann hatte ich Ferien.

Dass die Firma eine Burnoutstelle hat, ist eigentlich ein Widerspruch: Zuerst presst man die Mitarbeiter aus, und wenn jemand nicht mehr kann, schickt man ihn zum Psychologen. Der Druck in der IT-Firma, in der ich arbeite, ist über die Jahre gestiegen. Ich habe einige Burnouts von Kollegen erlebt. Ende der 1990er Jahre bin ich zur Firma ­gekommen, nachdem mein früherer Arbeitgeber den Informatikbereich ausgelagert hatte. Kaum war unsere Abteilung übernommen worden, wurden die Löhne gesenkt, und man begann, einzelne Bereiche von der Schweiz nach Osteuropa zu verlagern. Das führte zu Verunsicherung. Ich konnte bleiben, wechselte ein paarmal intern die Stelle.

Bevor ich 2010 in die Sommerferien fuhr, wollte ich alles erledigt haben, ich hatte keinen Stellvertreter. Am Donnerstag vor der Abreise merkte ich, dass ich es nicht schaffen würde. Ich wurde extrem nervös, bekam Nasenbluten. Ich rief den Psychologen an, und er machte mit mir Atemübungen übers Telefon. Dann fuhr ich mit meiner Lebenspartnerin für zwei Wochen in die Ferien. Je näher die Rückkehr kam, desto grösser wurde meine Angst. Ich konnte nicht mehr schlafen. Am ersten Tag nach den Ferien ging ich ins Büro, aber ich war blockiert, sass am Computer und konnte nichts tun. Ich war total nervös, schwitzte, fühlte mich überfordert. Am nächsten Tag ging ich zum Hausarzt. Ich wurde krank geschrieben und erhielt Medikamente, tagsüber Cipralex, um meine Stimmung zu heben, abends ­Remeron, damit ich schlafen konnte.

Meine Partnerin war überrascht von meinem Zusammenbruch. Ich hatte ihr vorher nie etwas gesagt, ich redete nie über meine Arbeit. Jetzt hatte ich plötzlich viel Zeit. Doch ich wusste nicht, was ich machen sollte. Eigentlich fotografiere ich gern oder fahre Velo, aber der Antrieb fehlte. Ich konnte mich nicht aufraffen, blieb in der Wohnung. Die ambulante Behandlung beim Psychologen brachte keine Besserung. Nach zwei Monaten war mir klar, dass ich in eine Klinik musste. Nicht in der Stadt, wo ich wohne, sondern weg, in einer schönen Umgebung. Ich entschied mich für die Klinik Meiringen-Hasliberg. Seit Mitte Oktober bin ich nun hier, für acht Wochen. Ich habe Einzeltherapie, die führt bis in die Kindheit zurück. Es gibt Gruppengespräche mit anderen Burnoutpatienten, wir machen Tests und Rollenspiele. Alle leiden unter ähnlichen Symptomen – Schlaflosigkeit, Nervosität, mangelnder Antrieb –, doch man sieht es ihnen nicht an. Mit dem Schlafen habe ich noch immer Mühe, trotz Akupunktur, Meditation und Medikamenten. Doch ich bin ruhiger geworden und offener, kann über meine Gefühle reden. Das merke ich auch am Wochenende, wenn ich mit meiner Partnerin zusammen bin.

Was nachher kommt, weiss ich noch nicht. Geheilt werde ich nach dem Aufenthalt nicht sein, weiterhin werde ich psychiatrische Betreuung brauchen. Mit dem Sozialdienst klären wir grad ab, wie es beruflich weitergehen kann – wenn möglich, möchte ich in die Firma zurückkehren, vielleicht eine andere Funktion übernehmen, nicht mehr an die Front. Ich überlege mir auch, das Pensum auf 80 Prozent zu reduzieren. Aber es muss auch finanziell aufgehen. Bis heute habe ich immer voll gearbeitet. Ich weiss, dass ich meine Einstellung zur Arbeit ändern muss, ich brauche eine dickere Haut. Die Firma wird sich nicht verändern.»

 

ADHS

Volenté, 32 Jahre alt, leidet seit ihrer Kindheit an ADHS. Die Krankheit wurde erst 2008 diagnostiziert. Sie arbeitet in einem geschützten Atelier.

«Mit zehn Jahren musste ich einen psychologischen Test machen. Ich hatte schlechte Noten, konnte nicht ruhig sitzen, war unkonzentriert, redete viel zu schnell, vergass ständig meine Schulsachen. Das sind typische Symptome von ADHS, das heisst Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Aber daran dachte niemand bei der Abklärung, auch in der anschliessenden Therapie. Alles wurde mit meiner Kindheit zu erklären versucht. Die war nicht einfach: Ich bin 1978 in Südafrika geboren, meine Mutter war Südafrikanerin. Als ich zwei war, zog sie mit mir in die Schweiz, wo mein Vater lebte, er ist Schweizer. Nach einem Jahr trennten sich meine Eltern. Weil meine Mutter psychische Probleme hatte und übermässig Alkohol trank, kam ich in eine Pflegefamilie, gegen den Willen meines Vaters. Das war damals noch so. Mit neun Jahren kam ich in die zweite Pflegefamilie.

Mit Nachhilfeunterricht ging es besser in der Schule. Zu Hause konnte ich mich austoben, im Wald umherrennen, wir lebten auf dem Land. Ich ordnete die Zeit, indem ich einen Plan an die Tür hängte. Da war notiert, wann ich Aufgaben machte, aufräumte oder freihatte.

Mit 16 fand ich eine Methode, mich zu beruhigen: Cannabis rauchen und Whisky trinken. So konnte ich ruhig dasitzen. Und einschlafen, ohne dauernd an etwas herumzustudieren. 1996 begann ich eine Bürolehre, da trank ich nur noch abends, aber bis zu einer Flasche täglich. Als sich 1997 meine Mutter umbrachte, ging es mir sehr schlecht. Ich konnte nicht mehr schlafen und liess mich ambulant im Spital behandeln, erhielt Schlafmittel und Antidepressiva. Dann ging ich zwei Jahre in eine Psychotherapie, da sprachen wir wieder über meine Kindheit.

1998 schloss ich die Lehre ab und begann eine Informatikausbildung. Jetzt wurde mir bewusst, wie schlecht ich mich konzentrieren konnte. Ich musste die Ausbildung abbrechen. Danach ging ich zu Sulzer, wo ich Maschinenzeichnungen einscannte, dann wechselte ich als Daten­typistin zur Credit Suisse. Die Arbeit gab mir eine klare Struktur, am Morgen war ich im Büro, wegen eines Rückenleidens bin ich nur 50 Prozent arbeitsfähig, am Nachmittag war ich zu Hause, kochte, ging spazieren. Fast jeden Abend ging ich in den Ausgang.

2002 lernte ich meinen Freund kennen, im Jahr darauf verlobten wir uns, 2005 heirateten wir und zogen zusammen. Mein Ablauf kam völlig durcheinander. Da merkte ich, dass mit mir etwas nicht stimmte. Um 18 Uhr gab es Nachtessen, das war für mich klar, doch mein Mann kam oft später von der Arbeit. Es gab Streit. Und nach dem Essen sassen wir auf dem Sofa und gingen nicht mehr aus. Mir fehlte die Stimulation, ich rastete schnell aus, dann wieder war ich niedergeschlagen.

Ende 2007 gab mir eine Freundin das Buch «Zwanghaft zerstreut oder Die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein». Darin wird anhand vieler Beispiele beschrieben, was ADHS ist. Ich erkannte mich wieder, eins zu eins. Anfang 2008 ging ich zu einer Psychologin, die auf ADHS spezialisiert ist. Die neurologischen Tests waren eindeutig. Seither mache ich eine Psychotherapie, einmal die Woche Gespräche und Coaching. Und ich bekam Ritalin verschrieben. Die Wirkung ist erstaunlich: Ich bin konzentrierter, kann zuhören, ohne gleich dreinzureden.

Als ich spazierenging, hörte ich plötzlich einzelne Vögel, das war komisch, früher war es stets bloss eine Geräuschkulisse gewesen. Einzig das Keyboardspielen machte keinen Spass mehr, ich hörte all die Fehler, die ich machte. Seit ich Ritalin nehme, geht es auch motorisch viel besser, ich stosse mich nicht mehr an Türrahmen. Und ich kann zum ersten Mal schöne Kreise machen beim Zähneputzen, zuvor war das immer ein Hickhack gewesen mit der Bürste.

Ich nehme zwei Tabletten pro Tag, eine morgens um viertel nach sechs, ich stelle extra den Wecker, dann lege ich mich nochmals hin. Abends nehme ich eine zweite, damit ich schlafen kann. Wenn ich tagsüber etwas konzentriert machen will, etwa Rechnungen bezahlen, nehme ich zusätzlich eine halbe Tablette. Verlangen nach Alkohol habe ich keines mehr. Der Whisky war mein Medikament.

Die Psychotherapie half mir auch, die Trennung von meinem Mann und 2009 die Scheidung zu überstehen. Da bin ich nochmals in ein Loch gefallen, war krank geschrieben. Nun lebe ich allein. Zu Hause läuft fast immer der Fernseher oder Musik. Wäre es still, käme mir dauernd etwas anderes in den Sinn, dann würde ich zum Beispiel die Pfanne auf dem Herd vergessen und in einem anderen Zimmer etwas aufräumen.

Im Herbst 2010 habe ich wieder begonnen zu arbeiten, in einem geschützten Atelier. Ich webe Handtücher, klebe Karten, schleife Holzteile. Was ich später mache, weiss ich noch nicht. Wichtig ist, dass der Tag gut strukturiert ist.»

Thomas Schenk ist freier Journalist und Schriftsteller; er lebt in Zürich.