Sommertheater in den Bergen
NZZ, 27. Juli 2001
Bemerkungen zu drohenden Naturgefahren
Willkommen im grossen Freilichttheater. Das Stück heisst „Faszinierende Bergwelt“, der Schauplatz Jungfrauregion. So etwas wie der geistige Vater des Schauspiels ist der Berner Lyriker und Botaniker Albrecht von Haller, der mit seinem Gedicht „Die Alpen“ ersten Tiefländern den Weg in die Welten aus Stein und Eis gewiesen hatte. Das war 1732. Heute tummeln sich jährlich Hunderttausende von Ferienlustigen vor der alpinen Kulisse – motorisierte Gipfelstürmer, verhinderte Bergsteiger und andere Naturfreunde, denen der Sinn nach Alpenfeeling steht. – Als Inspizient wirkt Hans-Rudolf Keusen. Der sechzigjährige Geologe sorgt für den reibungslosen Ablauf der Aufführung. Er beurteilt, ob brüchiger Fels, loses Gestein oder ins Rutschen geratene Erdmassen die Sicherheit der Sommerfrischler gefährden. Er ordnet an, den Bahnbetrieb einzustellen, Wege zu sperren, Felsnasen oder andere Gefahrenherde vorsorglich sprengen zu lassen. Er überwacht die Szenerie als Experte der Jungfraubahnen, die hier Regie führen, Touristenströme gekonnt zwischen Interlaken, Grindelwald und Lauterbrunnen lenken. – Ihn wollen wir bei seiner Arbeit am Dekor begleiten, uns über die verborgenen Tricks des Bühnenaufbaus informieren lassen, mit ihm zusammen hinter die Kulisse blicken, den Stein verstehen und damit Risiken, die dem Tourismusbetrieb in der Bergwelt lauern. Kein anderer Schweizer Geologe hat mehr Erfahrung bei der Beurteilung von Naturgefahren als Keusen. Vor zehn Jahren war er beim Bergsturz in Randa dabei, er wird im In- und Ausland als Gerichtsexperte beigezogen, hat eben ein Gutachten zum Höhlendrama in Goumois verfasst, unterstützt die Arbeiten am Grimsel, wo Felsmassen seit Monaten die Passstrasse bedrohen. Er berät als Präsident der Eidgenössischen Geologischen Kommission den Bundesrat in Grundsatzfragen zur Erdwissenschaft. Und er ist der Kopf der Firma Geotest, mit sechzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eines der grössten Geologiebüros der Schweiz.
Vorspiel.
Im grossen Sommertheater können Keusens Anweisungen über Leben und Tod der Gäste aus dem Unterland entscheiden. Im Extremfall. Von einem solchen erzählt er auf der Autobahn zwischen Bern und Interlaken, als wir uns zum ersten Mal zu seinen Schauplätzen aufmachen. Vor zehn Jahren war auf dem Jungfraujoch ein Felspaket von 5000 Kubikmetern auf den Aletschgletscher gedonnert; Gestein hatte sich erwärmt und war spröde geworden. Hier, wo sonst Dutzende von Erholungsuchenden beisammen stehen. Die Katastrophe blieb aus, denn Keusen hatte die Passage vorsorglich sperren lassen. Zum Ärger der Bergführer, die mit ihren Kunden einen einstündigen Umweg machen mussten. „Als die tonnenschweren Steinbrocken drei Monate später am Boden lagen, wurden die Bergführer still“, erinnert sich Keusen. In der Zwischenzeit haben Mineure einen neuen Ausgang durch den Jungfraugranit gesprengt, die Touristen strömen wieder auf das gleissende Eis, in Sandalen und Halbschuhen, durch Steinschlagnetze geschützt.
Zero-Tolerance kann man das Prinzip nennen, nach dem Keusen verfährt. „Es darf nichts passieren“, erklärt er lapidar. „Wenn hier oben ein Mensch zu Schaden käme, wäre das eine Katastrophe.“ Auf seiner Bühne darf kein Stein, kein Eisbrocken einem Touristen zu nahe kommen. Ein scharfer Kontrast zur Nonchalance, mit der sich Berggänger abseits der präparierten Bühnen bewegen, wobei immer wieder Waghalsige zu Tode stürzen. Just an einem der Tage, als uns Keusen die Orte seines Wirkens zeigt, muss die Rettungsflugwacht gleich mehrmals ausrücken, um im Berner Oberland vier verunglückte Alpinisten zu bergen, alle tot.
Stieregg.
Wir lassen uns im Helikopter von Grindelwald auf den ersten Schauplatz bringen, eine Schafalp auf 1650 Meter über Meer, um die ökonomischen Zwänge im Bergtourismus und die Folgen des Klimawandels zu studieren. Keusen soll beurteilen, wie sicher der Wanderweg ist, der von der Stieregg zur Schreckhornhütte führt. Wo fängt das Gebirge an, wo wird auf die Herrichtung der Landschaft verzichtet, wo dürfen Touristen den Naturgefahren ungeschützt ausgesetzt werden? Hier, wo der Hüttenweg unterbrochen ist, seit die Sonne den darüber liegenden Hang aufgetaut hat, wo sich nun ein Murgang, wie die Stein- und Schlammlawinen im Jargon heissen, bald rascher, bald gemächlicher zu Tal wälzt? Rhetorische Fragen. „Hier ist es für durchschnittliche Wanderer zu gefährlich“, sagt Keusen nach dem Rundflug über das Anrissgebiet. „Die Situation ist sehr heimtückisch, man kann von Steinblöcken erschlagen werden oder nach Regen im Schlamm versinken.“ Hier beginnt der Alpenraum. Eigentlich. Doch die Realität ist komplizierter, Keusens Null-Risiko-Strategie greift hier nicht. Tagesausflügler in roten Socken sind willkommen, bescheren dem Hüttenwart tausend Höhenmeter weiter oben Umsatz. So einigt man sich auf Warntafeln, die dazu animieren sollen, den Einschnitt möglichst rasch zu passieren.
Christian Kaufmann braucht den Appell an die Eigenverantwortung nicht. Er kennt das Gebiet wie kein Zweiter, seit vielen Jahren treibt er seine Schafe auf die Stieregg und von dort weiter die Steilhänge hinauf. Vergangenen Herbst, als die Schuttlawine erstmals losging, war er mit seiner Herde einige Tage abgeschnitten, über 300 Tiere mussten per Heli ausgeflogen werden. Der Murgang hat ihn nicht eingeschüchtert, auch dieses Jahr ist er mit den Schafen zurückgekehrt. „Wir leben mit den Gefahren“, sagt er gelassen. „Der Berg befiehlt, wir haben gelernt, uns danach zu richten.“ Er will auch diesen Sommer herunterstürzenden Brocken ausweichen, falls nötig mit Brettern einen notdürftigen Übergang für die Schafe bauen. Zur Sicherheit hat er sich nun immerhin ein Notbiwak eingerichtet, sollte ihm der Murgang wieder den Rückweg abschneiden.
Die Klimaerwärmung droht zum Spielverderber zu werden. Weil die Sonne in den letzten Jahren etwas zu kräftig geschienen hat, ist der einst gefrorene Boden beim Ankenbälli oberhalb der Stieregg aufgetaut. „Wenn das Eis schmilzt, das die Erdmassen auf dieser Höhe eigentlich zusammenhält, dann können Hänge in Bewegung kommen, lose Steine bis zu haushohen Felsblöcken spontan hinunterdonnern“, erklärt Keusen. Die Lage wird sich in den nächsten Jahren nicht entschärfen, meint er. Was das für die Landschaft bedeutet, zeigt sich dem Auge bereits einprägsam. Wüste, von Geröll überfüllte Felder bleiben zurück, wenn der Permafrost taut und darunter liegende Wiesen mitgerissen werden. Mit seiner Kraft frisst das Gestein metertiefe Furchen in den Hang, deren Seitenwände sich immer mehr in das Weideland eingraben.
Ein Teil der Geröllmassen stürzt auf den Unteren Grindelwaldgletscher. Genauer auf das bisschen Eis, das noch davon übrig ist. Seit 1880 ist das einstige Symbol des Gletscherdorfes, das Caspar Wolf und anderen grossen Landschaftsmalern als Motiv gedient hatte, um einen Kilometer geschrumpft. Eine allgemeine Zeiterscheinung, im ganzen Alpenraum ziehen sich die Eisströme zurück. Klimaforscher befürchten, dass bis in ein paar Jahrzehnten über die Hälfte der Gletscher verschwunden sein wird, mit ungemütlichen Folgen für die Bergtäler. „Murgänge, Erdrutsche oder Felsstürze werden zunehmen“, meint Keusen zum Abschluss der Begehung, „Gewitterregen schwemmen vermehrt freigesetztes Gestein und Schutt die Täler hinab.“ Bedrohlich sind auch die klimatischen Veränderungen im Winterhalbjahr. „In warmen, nassen Wintern dringt mehr Wasser in den Untergrund, was Felsen und Hänge aus dem Gleichgewicht bringen kann.“ Für das Berner Oberland heisst das: Die für eine perfekte Inszenierung des alpinen Theaters Verantwortlichen sind immer stärker gefordert.
Schynige Platte.
Wir fahren mit der Zahnradbahn von Wilderswil zur nächsten Bühnenlandschaft, um zu sehen, wie langsam, aber stetig Gestein der Schwerkraft gehorchen kann. Kurz vor der Bergstation lässt uns der Zugführer aussteigen, wir gehen zurück zum Grätlitunnel. Nur 162 Meter lang ist die Röhre, die durch Kalk- und Mergelschichten führt, aber sie ist in Bewegung. Der Fels rutscht, jährlich bis zu 35 Millimeter, und das seit Jahrzehnten. Bereits kurz nach dem Bau im Jahr 1893 traten erste Schwierigkeiten auf. Einmal pro Jahr inspiziert Keusen die Stelle, um aussergewöhnliche Deformationen zu eruieren. Spuren sind in der Tat sichtbar, Spritzbeton blättert ab, handbreite Spalten haben sich in Decke und Wand aufgetan. Trotzdem wird Keusen später erläutern, für den Bahnbetrieb bestehe keine Gefahr.
Für ihn brachte die Begehung keine Überraschungen. Seit der Tunnelsanierung Ende der achtziger Jahre lässt Keusen die Felsbewegung genauestens überwachen. Damals war das Tunnelprofil erweitert worden, um zu verhindern, dass die Bahnwagen die verformte Wand touchieren. Keusen liess sensibles Messgerät montieren, hochpräzise Metallstangen, sogenannte Extensometer und Inklinometer, die horizontale und vertikale Bewegungen auf Millimeterbruchteile exakt registrieren. Seither ermittelt ein Bahnangestellter alle drei Wochen auftretende Verschiebungen. Mit den Messungen soll eine beschleunigte Deformation frühzeitig erkannt werden. „Dies wäre ein Zeichen, das einem Absturz vorangeht“, erklärt Keusen. Doch die Beschleunigung bleibt aus, der Fels kriecht weiterhin überaus regelmässig. Hätten die Jungfraubahnen damals einen ängstlicheren Geologen zugezogen, wäre das Trassee vielleicht längst verlegt, an anderer Stelle ein Kehrtunnel gebohrt worden. Die Bahnleitung hatte bereits ein entsprechendes Projekt ausarbeiten lassen – für das Unternehmen, das während der kurzen Sommersaison seine Kosten nur knapp einspielen kann, ein wirtschaftlich riskantes Unterfangen. Doch Keusen kam zum Schluss, dass ein spontaner Abbruch der Felsmassen unwahrscheinlich sei, dass die nötige Sicherheit stattdessen mit Tunnelsanierung und Überwachung garantiert werden könne.
Die pragmatische Art zeichnet Keusen aus. Ein Beispiel dafür hat er vor zwei Jahren bei der Tour de Suisse geliefert. Zwei Tage bevor die Radprofis zur Königsetappe von Bellinzona über Gotthard, Susten und Grosse Scheidegg nach Grindelwald aufbrechen wollten, hatte Keusen einen aufgeregten Anruf erhalten. Tour-Direktor Hugo Steinegger wollte wissen, ob Jalabert, Zberg und Co. die heikle Stelle würden passieren können. Die Strasse über den Susten war gesperrt worden, nachdem Felsmassen auf die Passstrasse gestürzt und weitere Abbrüche zu befürchten waren. Einer seiner Berufskollegen hatte bereits von der Durchfahrt abgeraten, als Keusen den Fels inspizierte. Er ordnete den Bau einer provisorischen Schutzwand an, zog eine Überwachung auf, und tags darauf fuhr das Feld wie geplant vorbei. „Ich will helfen, Dinge zu verwirklichen, Lösungen zu finden“, nennt er als Motivation für solche Einsätze.
Dass er dabei Grenzen des technisch Möglichen auslotet, diese Haltung hat ihm die Verpflichtung als Hausgeologe der Jungfraubahnen eingebracht. Das war vor zwanzig Jahren. Keusen sollte abklären, ob am Standort des abgebrannten Berghauses ein Neubau zu realisieren wäre. Eine Alternative war dringend nötig, weil das Projekt „Kristall“, ein markanter Glasbau auf dem Sattel zwischen Mönch und Jungfrau, unter dem Druck von Landschaftsschützern zurückgezogen werden musste. „Durchführbar“, kam Keusen auch hier zum Schluss, mit aufwendigen baulichen Massnahmen allerdings. Heute sichern armdicke Spannkabel den fünfstöckigen Bau, der sich geschickt an den Felshang schmiegt. Die Anker wurden dabei nicht einfach mit Zement im Berg fixiert, sondern in einem eigens gesprengten Stollen. Dort lässt sich nun die Spannung der Stahlseile mit Gegenmuttern kontrollieren, zudem dient der Tunnel als Getränkelager. Eine Methode, die Keusen bereits Mitte der siebziger Jahre beim Bau der Kleinmatterhornbahn bei Zermatt angewendet hatte.
Station Eigerwand.
Wir nutzen den Zwischenhalt auf der Fahrt von der Kleinen Scheidegg zum Jungfraujoch, um die Kraft zu studieren, die auf die Alpenkulisse einwirken kann. Keusen will uns zeigen, wie Touristiker den Berg mobilisieren können, falls sie dabei nicht vorsichtig genug vorgehen. Hier, auf 2865 Metern über Meer, kann hinter Sicherheitsglas ein Blick die Eigernordwand hinab gewagt werden; als die Bahn 1912 ihren Betrieb aufgenommen hatte, schützte nur eine hüfthohe Brüstung vor dem tausend Meter tiefen Fall. Anfang der siebziger Jahre, als der Touristenstrom anschwoll und es an den Fenstern unübersichtlich wurde, erweiterte die Bahn die Gucklöcher. Und erhöhte damit den Druck auf die verbliebenen Felsstützen. „Jetzt werden die Pfeiler gestaucht, pro Jahr um zwei Zehntelmillimeter“, hat Keusen ermittelt.
Äussere Zeichen der langsamen Deformation sind handbreite Risse in den Stützpfeilern, zentnerschwere Kalksteinbrocken, die unter dem Druck ausbrachen und nun im Durchgang zur Bahnstation aufgeschichtet liegen. Für Keusen jedoch keine dramatische Situation, die Touristen sind keinem Risiko ausgesetzt. Er lässt die Bewegung überwachen, zwei Pfeiler sind bereits mit einem meterdicken Betonmantel und Stahlringen verstärkt worden. Wie lange die Attraktion auf diese Art gesichert werden kann, ist aber ungewiss. Auch hier sind die Folgen der Klimaerwärmung erkennbar. Von Juli bis November misst Keusen Gesteinstemperaturen von über null Grad, wodurch im Fels eingeschlossenes Eis auftauen und als Wasser zusätzlichen Druck erzeugen kann.
Von diesen Bewegungen ahnen die Japaner, Inder und Amerikaner in der Bahn nichts. Fünf Minuten hält sie bei der Eigerwand. Mehr Zeit lässt der dichte Fahrplan nicht zu, drängen doch pro Tag bis zu 7000 Personen in die Gletscherwelt des Jungfraujochs. Was den Bahnverantwortlichen gelegen kommt. „Wir wollen unsere Gäste nicht ängstigen, sondern ihnen ein hundertprozentiges Vergnügen bieten“, meint Jürg Lauper, Bauchef der Jungfraubahnen. Deshalb werden notwendige Arbeiten im Hintergrund ausgeführt. Eine wohlgeordnete Bergwelt soll präsentiert werden. Und wie im richtigen Theater darf auch hier das Wirken der Bühnenarbeiter für das Publikum nicht sichtbar sein. Sich ungestört der Illusion hingeben heisst die Devise.
Und wenn doch einmal etwas passiert? Für diesen Fall hat Keusen eine Haftpflichtversicherung, Schadensumme zwanzig Millionen Franken – die er noch nie gebraucht hat und die für ihn nur ein kleiner Trost ist. „Es gibt Dinge, die kann man nicht mit Geld gutmachen.“ Trotzdem kann er ruhig schlafen, steckt die Verantwortung anscheinend mühelos weg, die auf ihm lastet. Keusen vertraut auf sein Gefühl, auf genaue Naturbeobachtungen, das Studium von stummen Zeugen, wie er Felsbrocken, Gräben oder Kegel nennt, die im Gelände an frühere Ereignisse erinnern. Und er verlässt sich auf seine Erfahrung. Schliesslich ist er seit bald drei Jahrzehnten im Geschäft.
Keusens Intuition ist das eine. Das andere sind die technischen Hilfsmittel, die ihn bei seiner Arbeit unterstützen. Im Labor in Zollikofen bei Bern, dem Hauptsitz von Geotest, werden Gesteinsproben analysiert, wird Fels angebohrt, gefräst, geschliffen, um Beschaffenheit oder Verwitterung zu studieren, um die Wasserdurchlässigkeit oder das Verhalten bei Zug und Druck zu messen. Computer simulieren Felsabbrüche, Steinschlag und andere Ereignisse, werten Daten von Dutzenden von Messstationen aus. Totale Sicherheit könnten aber auch diese Analysen nicht bieten, meint Keusen dann bei der Rückfahrt vom Jungfraujoch. „Geologie ist in gewissem Sinn eine okkulte Wissenschaft. Vieles bleibt im Untergrund verborgen. Man kann ja nicht jeden Zentimeter eines Felsens anbohren.“
Lauterbrunnen.
Wir fahren hinunter ins Lütschinental, zum letzten Schauplatz, um im Gelände die Bedeutung von Gefahrenkarten zu sehen und nebenbei etwas über die Zyklen im Wirtschaftszweig der Geologie zu erfahren. Seit ein paar Jahren unterstützt der Bund die systematische Erfassung von Umweltrisiken im Berggebiet, so auch in Lauterbrunnen. Soeben hat Keusen hier eine solche Karte erstellt, die zeigt, welche Grundstücke in der Gefahrenzone liegen, wo Schutzmassnahmen not tun. Ausgerechnet der Staubbachfall, das Wahrzeichen des Ortes, kam in den roten, gefährdeten Bereich zu liegen, weil immer wieder Steine die Felswand hinunter prasseln. Nirgendwo sonst in Europa stürzt Wasser aus grösserer Höhe herab, und schon Goethe war auf einer seiner Schweizer Reisen hierher gepilgert. Nach Keusens Einschätzung ist es nun fraglich, ob der Weg zum Wasserfall fürs Publikum wieder geöffnet werden kann.
Auch sonst ist Lauterbrunnen nicht zu beneiden. Nicht nur, weil es von allen Schweizer Gemeinden den höchsten Steuerfuss hat. Beim Gryfenbach auf der linken Talseite rutschen zwanzig Millionen Kubikmeter Boden talwärts, jährlich um ein paar Zentimeter, präzise erfasst von Lasergeräten. Die Strasse hinauf nach Isenfluh ist bereits in den achtziger Jahren weggerissen worden, die Standseilbahn auf die Grütschalp, früher ein schnurgerades Trassee, liegt wie eine Banane am Hang, von der Rutschung gekrümmt. Vor zwei Jahren musste der Betrieb unterbrochen werden, als sich die Erde ungewöhnlich rasch bewegt hatte. Nun ist eine Gondelbahn geplant, um die Problemzone zu überqueren.
Ob Gefahrenkarten oder Gutachten für Seilbahnen: Die Beurteilung von Naturgefahren boomt. Seit ein paar Jahren reite er auf dieser Welle, sagt Keusen. Nicht nur im Berner Oberland, auch in Liechtenstein erstellt er Gefahrenkarten und lässt im Puschlav Felsmassen überwachen, die Bahngeleise und Kantonsstrasse gefährden. Früher waren es andere Modethemen, die Geotest zu Aufträgen verhalfen. In den sechziger Jahren wollten Autobahnen gebaut werden, dann folgten Abklärungen für Wasserkraftwerke, überaus einträglich waren später Probebohrungen für die Nagra, die bis heute nach einem Standort für die Lagerung von Atommüll sucht. Um die grossen technischen Entwicklungen im Zeitraffer zu sehen, genügt ein Blick ins Archiv der Geologen.
Nachspiel.
Abbrüche, Rutschungen sind im Gebirge kein Novum. „Die Alpen sind jung, da sind Erdbewegungen natürliche Phänomene“, stellt Keusen den Bühnenumbau in einen grösseren Zusammenhang. Spuren von 1500 Bergstürzen haben Geologen in der Schweizer Landschaft entdeckt. Einer der verlustreichsten ereignete sich 1806 in Goldau, 457 Menschen wurden unter Felsblöcken begraben. Obwohl sich der Abbruch Jahre zuvor angekündigt hatte, sich metergrosse Spalten öffneten, Tannen umknickten, im Berginnern verdächtiges Knirschen zu hören war, hatten sich nur wenige Anwohner in Sicherheit gebracht. Heute werden drohende Naturkatastrophen erheblich präziser erfasst, Geologen kontrollieren mit ausgeklügeltem Gerät das Gebirge. „Aber noch immer muss der Mensch seine Grenzen erkennen“, sagt Keusen, „nicht alles ist technisch beherrschbar.“ Das ist eben erst auf einem seiner Schauplätze deutlich geworden. Ein paar Wochen nach dem Augenschein auf der Stieregg hat ein neuer Abbruch den Bergweg verschüttet, jetzt bleibt der Aufstieg zur Schreckhornhütte gesperrt.
„Viele Ingenieure können es nicht akzeptieren, wenn die Natur stärker ist“, sagt Keusen. Er selbst hat seine heimliche Freude daran, dass sie sich nicht zähmen lässt. Sie ist es, die in Wirklichkeit die alpine Bühne gestaltet. Und letztlich über die Zukunft des Sommertheaters bestimmt.