Tramführer im Temporausch
Tagesanzeiger, 5. Februar 2002
Die Beschleunigung des 50-Tonnen-Gefährts will gelernt sein: Ex-Tramführer Thomas Schenk über das Rasen mit dem Tram.
Auf dem Zürcher Tramnetz wird schnell gefahren, manchmal zu schnell (siehe TA vom Donnerstag). Ich gestehe: Auch ich bin einmal zum Raser geworden. Im Schwamendingertunnel ist es passiert, in meiner Lehrzeit, es ging vom Milchbuck stadtauswärts, bergab, und weil ich versehentlich die Motorenbremse ausgeschaltet und das Tram der Schwerkraft gehorcht hatte, war ich schneller als die erlaubten 60 Stundenkilometer unterwegs, vielleicht mit 65. Aber Werner, mein Lehrmeister, passte auf und befahl mir zu bremsen. Seine entsetzten Augen habe ich bis heute nicht vergessen.
In den ersten Fahrstunden musste ich mich noch überwinden, das Tram richtig zu beschleunigen. Die Grösse des Fahrzeugs hemmte mich – hinzu kamen die Bremsen, die nur verzögert reagierten. Doch bald hatte ich mich daran gewöhnt. Und genoss es. Werner hatte Recht: Das Fahrgefühl mit Schienenfahrzeugen ist mit nichts zu vergleichen. Das schwerelose Gleiten, gleichzeitig die Präzision, mit der man dem Schienenstrang folgt. Reine Ästhetik. Man sitzt in der Führerkabine und hat die Welt im Griff. Seit eineinhalb Jahren fahre ich nicht mehr selber Tram – und vermisse dieses Gefühl.
Gut sind 40 bis 45 km/h
Das ideale Tempo für ein Tram, so meine Erfahrung, beträgt 40 bis 45 Stundenkilometer. Aber auch nur dann, wenn die Räder rund und die Schienen intakt sind. Fährt man schneller, nehmen Lärm und Vibrationen übermässig zu. Und überhaupt ist die Strecke zwischen zwei Haltestellen vielfach zu kurz, um die zulässige Maximalgeschwindigkeit von 60 km/h zu erreichen. 18,3 Sekunden braucht ein Tram von null auf sechzig, so habe ich mit meiner Armbanduhr gemessen.
Die Regeln sind klar: Für jeden Abschnitt und jede Kurve auf dem Zürcher Tramnetz ist die Höchstgeschwindigkeit festgelegt. Und so war ich die erste Zeit als Tramführer damit beschäftigt, Zahlen auswendig zu lernen. Gut möglich, dass ich später einmal etwas verwechselte oder vergass. Im Zweifelsfall fuhr ich langsamer. Doch auch diese Strategie ist nicht ohne Risiko. Wer die erlaubte Geschwindigkeit nicht ausschöpft, hat Mühe, den Fahrplan einzuhalten. Das System ist unerbittlich, es zeigt dem Fahrer die Abweichung auf zehn Sekunden genau an. Und egal aus welchem Grund ich zu spät unterwegs war, je grösser mein Rückstand, desto höher meine Anspannung.
Nie wäre ich absichtlich zu schnell gefahren. Die Gewalt, die in den 50 Tonnen eines Trams steckt, ist zu gross, der Bremsweg zu lang. Dazu kam meine Angst, beim Rasen ertappt zu werden – aufgrund des Fahrtenschreibers, der bei einer Kollision ausgewertet wird, oder bei einer der Radarkontrollen, welche die VBZ sporadisch durchführen, vorzugsweise in engen Kurven und in Fussgängerzonen. Die Ergebnisse werden im Tramdepot zur Abschreckung aufgehängt.
Mehr Zeit, Passanten zu beobachten
So schön es ist, auf den Schienen zu schweben: Ich habe mir gewünscht, der Fahrplan sähe längere Fahrzeiten vor. Ich hätte weniger schnell zu fahren brauchen und mehr Zeit gehabt, die Passanten zu beobachten. Und beim Wenden an der Endhaltestelle wären vielleicht ein paar Minuten geblieben, um die Beine zu vertreten oder die Blase zu leeren. Dass mein Rhythmus abwich von jenem, den der Fahrplan vorgab, merkte ich jeweils nach den Ferien. Ein paar freie Tage genügten, und mein ursprüngliches Geschwindigkeitsempfinden meldete sich zurück. Alles ging mir dann ein bisschen zu rasch, und ich musste mich die ersten paar Stunden wieder überwinden, ans Limit zu gehen.
Thomas Schenk war fünf Jahre lang Tramführer bei den VBZ. Seine Erfahrungen hat er veröffentlicht unter dem Titel: «Im Tram – Anleitung zum Vorwärtskommen