Als «Stadtfahrer» in «20 Minuten»
Liegt es am Älterwerden? Oder daran, dass die Tage kürzer werden? Ich weiss es nicht, aber zurzeit geht mir eine Frage nicht mehr aus dem Kopf: Verändert mich das Tramfahren? Macht mich das Fahren auf Zürichs Geleisen zu einem anderen Menschen? Ja, sagt meine Frau. Strukturierter sei mein Leben geworden, findet sie. Selbst wenn ich ausschlafen könnte, stelle ich stets den Wecker, fällt ihr auf. Ganz zu schweigen von der Pünktlichkeit, die ich ihr tagsüber abverlange. Seit etwas mehr als drei Jahren fahre ich nun Tram, da bemerke ich solche Dinge nicht mehr. Aber meine Frau wird schon recht haben. Immerhin, möchte ich relativieren, bin ich noch nicht dazu übergegangen, mich auf 17 Uhr 51 mir ihr zu verabreden oder auf 19 Uhr 23, also minutengenau wie meine Tramdienste.
Bei andern Dingen fallen selbst mir die Veränderungen auf. Früher kümmerte ich mich nicht um Autos, meine verschiedenen Velos genügten mir. Inzwischen habe ich gelernt, Automarken und deren Modelle auseinander zu halten. Irgendwie muss ich meine Augen beschäftigen, wenn ich an den Kolonnen vorbeifahre. Und so kann ich heute gut mithalten, wenn meine Freunde über Autos diskutieren, kann erklären, dass sich der neue Porsche Cayman anhand der Luftschlitze gut vom Carrera unterscheiden lässt. Auch meine Zeitungslektüre ist eine andere geworden. Nun suche ich die vermischten Meldungen nach Tram-Schlagzeilen ab und präge mir genau ein, wenn etwa im Baselbiet ein Wildschwein sein Leben unter einem Tram gelassen hat.
Das Tram, habe ich festgestellt, beeinflusst mein Fahrverhalten mit anderen Verkehrsmitteln. Mit dem Velo fahre ich eher defensiver, was wohl damit zusammenhängt, dass ich vom Tram aus nicht nur meine Berufskollegen grüsse, sondern auch die Polizisten. Uniformsolidarität könnte man es nennen, und da wäre es mir unangenehm, wenn ich in der Freizeit bei der sogenannten Missachtung von Verkehrsregeln beobachtet würde. Benutze ich einmal das Auto, drücke ich etwas häufiger und auch länger auf die Hupe, genau so wie ich im Tram mit der Rasselglocke verfahre. Ich kann mich anstrengen, wie ich will, diesen Reflex bringe ich nicht mehr weg.
Und das sind erst die oberflächlichen Veränderungen. Was bewegt sich erst alles auf der mentalen Ebene? Tramführer müssen immer mit dem Schlimmsten rechnen. Bei jeder Stoppstrasse kann ein Auto ungebremst über die Schienen gerollt kommen. Jeder Taxifahrer kann noch rasch bei dunkelorange über die Kreuzung fahren wollen, jeder Rollbrettfahrer kann die Kontrolle verlieren und einem in die Quere kommen. Alle, immer, überall: Nach diesen Regeln ist mein Warnsystem eingestellt. Um sofort bremsen zu können, habe ich mir angewöhnt, schwarz zu sehen. Auch wenn es eigentlich immer gut ausgeht.
Bis heute hat sich diese berufsbedingte Schwarzmalerei nicht spürbar auf meinen Umgang mit anderen Menschen ausgewirkt. Obwohl gut denkbar ist, dass sich mit der Zeit im Unterbewusstsein ein paar Dinge verschieben. Dass man zum Beispiel zu Verallgemeinerungen neigt, das heisst Menschen eher als taub, blind oder wenigstens farbenblind bezeichnet, wenn es irgendwo gefährlich wird. Obwohl, hier in Zürich muss man dazu nicht extra das Unterbewusstsein bemühen. Hier kann ich von blossem Auge erkennen, wie immer mehr Menschen unter einer temporären Trübung ihrer Sinnesorgane leiden. Seit ziemlich genau drei Jahren nimmt dieses Phänomen zu, ganz eindeutig.