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NZZ Folio Finanzkrise

Wie konnte das nur passieren?

NZZ Folio zur Finanzkrise, Januar 2009

Wer die Finanzkrise verstehen will, muss verstehen, was ein Derivat ist, warum der Markt dereguliert wurde, wie man einen Kredit weiterverkauft. Hier erfahren Sie es.

Von Lukas Egli, Thomas Schenk, Reto U. Schneider und Daniel Weber

Wie, um Gottes willen, haben die das hingekriegt? Der unmittelbare Ablauf der Ereignisse wird in Teil 1 und 2 dieses Hefts beschrieben. Aber es bleibt die Frage: Wie konnte diese Finanzbranche entstehen, die mit gigantischen Summen hantierte und Hunderte von Milliarden Dollar vernichtete? Auf welchem Boden stand dieses Kartenhaus? Welche Voraussetzungen mussten erfüllt sein, damit es zur Krise kommen konnte? Hier ein paar Antworten, die wir von Experten bekamen:

«Alles begann mit den flexiblen Wechselkursen.»

«Die Verbriefung. Ohne Verbriefung hätte es keine Krise gegeben.»

«Dass die Finanzmärkte zu Casinos geworden sind, daran sind die Derivate schuld.»

«Die Deregulierung war der entscheidende Faktor.»

«Hinter allem steckt die Gier der Banker.»

Klingt, als sei da einiges schiefgelaufen. Und es scheint mehr als einen Schuldigen zu geben. Manche Neuerungen waren die logische Konsequenz einer Entwicklung, andere waren die Antwort auf veränderte Umstände, neue Konkurrenten, geänderte Gesetze. Zusammen bildeten sie jene explosive ­Mischung, die jetzt hochgegangen ist. Man könnte die Geschichte, die zu dieser Krise führte, bei der letzten grossen Weltwirtschaftskrise 1929 beginnen. Doch wir wollen in den 1970er Jahren anfangen, denn damals begannen sich jene Wertpapiere zu verbreiten, die heute die Weltwirtschaft erschüttern: die Derivate.

Um zu verstehen, was Derivate sind und warum sie ausgerechnet zu jener Zeit aufblühten, müssen wir uns zuerst anhören, was der amerikanische Präsident Richard Nixon am 15. August 1971 in einer Fernsehansprache sagte: «Ich habe Finanzminister Connolly angewiesen, die Konvertierbarkeit des Dollars in Gold aufzuheben.» Mit diesem unspektakulären Satz setzte Nixon das damals gültige Währungssystem von Bretton Woods ausser Kraft, benannt nach dem Ort, an dem es am Ende des Zweiten Weltkriegs festgelegt worden war. Es hatte darauf beruht, dass die Währung vieler Länder fest an den Dollar gebunden war und der Wert des Dollars fest an Gold: Eine Unze Gold kostete – geschehe, was wolle – 35 Dollar. Die tieferen Gründe dieses Arrangements spielen hier keine Rolle. Entscheidend ist: Nach Nixons Rede waren die Wechselkurse nicht mehr starr, sondern hingen auf komplizierte Weise von der Volkswirtschaft eines Landes ab und veränderten sich ständig. Das löste zwar einige Schwierigkeiten, die die Weltwirtschaft hatte, schaffte aber gleichzeitig neue.

Zum Beispiel für Leute wie Peter Ferrari, der damals Direktor bei der Uhrenfirma Certina in Grenchen war: «Anfang der siebziger Jahre hatten wir drei Probleme: den technologischen Umbruch mit der Erfindung der Quarzuhr, die Wirtschaftskrise und den immer stärker werdenden Franken. Unsere Uhren, die wir in Franken verkauften, wurden für die Kunden immer teurer. Das machte uns schwer zu schaffen. 1974 mussten wir die Rohwerk-Manufaktur schliessen und 160 Stellen streichen.»

Peter Ferrari hatte dasselbe Problem wie viele andere Schweizer Unternehmen, die im Inland produzierten, den Grossteil ihrer Waren aber im Ausland verkauften: Ihre Kosten fielen in Franken an, den Umsatz erzielten sie in Dollar, Pfund oder D-Mark, und die waren immer weniger wert. Von 4 Franken 30 im August 1971 büsste der Dollar bis ins Jahr 1978 fast zwei Drittel seines Wertes ein und kostete schliesslich weniger als 1 Franken 50. Die Firmen liefen ständig Gefahr, von fallenden Wechselkursen um die Früchte ihrer Arbeit betrogen zu werden. Sie wünschten sich die Welt der festen Wechselkurse zurück, und es gab Finanzexperten, die ihnen diesen Wunsch mittels eines Tricks halbwegs erfüllen konnten: mit sogenannten Währungsderivaten.

Diesen Trick hatten die Finanzexperten von den Bauern abgeschaut. Die Landwirtschaft hatte nämlich schon viel länger mit einer ähnlichen Schwierigkeit zu kämpfen gehabt: Wenn ein Bauer seinen Winterweizen anpflanzte, wusste er noch nicht, was er bei der Ernte im Juli dafür erhalten würde. Ähnlich wie Währungen änderte sich der Weizenpreis nach Angebot und Nachfrage. Der Aufwand, um den Weizen zu pflanzen, zu pflegen und zu ernten, blieb aber derselbe.

Da kam man auf die Idee, den Preis des Weizens lange vor der Lieferung auszuhandeln. Ein solcher Vertrag heisst Terminkontrakt oder Future und gehört in die Familie der Derivate. Der Nutzen für den Bauern war klar: Er war sicher, dass seine Kosten gedeckt waren, auch wenn der Weizenpreis plötzlich fallen sollte. Aber was hatte der Händler davon? Er konnte darauf spekulieren, dass der Weizenpreis stieg, und dann war sein Future plötzlich mehr wert als der anfangs ausgemachte Preis.

Mit der gleichen Methode wollten Exportfirmen nun auch dem Risiko von Währungsschwankungen beikommen. In Terminverträgen fixierten Käufer und Verkäufer den Wechselkurs für das Lieferdatum bereits bei der Bestellung. Wie beim Weizen steigt und fällt der Wert eines solchen Vertrags mit dem entsprechenden Wechselkurs. Ab 1972 wurden Währungsfutures an einer eigenen Börse, dem International Monetary Market in Chicago, gehandelt.Dort kann ein Fabrikant das Risiko der fallenden Wechselkurse an einen Börsenhändler weitergeben, der dieses Risiko tragen will, weil er die Aussicht hat, bei steigenden Wechselkursen Gewinn zu machen. Gegen den langfristigen Fall des Dollars kann allerdings auch ein Terminkontrakt nichts ausrichten.

Es gehört zu den zentralen Eigenschaften aller Derivate, dass sie ermöglichen, Risiken auf jene zu verteilen, die sie besser tragen können – und, wie man später sagen wird, auf jene, die sie am wenigsten verstehen. Denn Derivate können sehr komplizierte und gefährliche Konstrukte sein.

Was haben Derivate mit der Krise zu tun?

Die Mathematikerin und Biologin Dagmar Iber hat ein Jahr lang bei der Barclays Bank in London mit Öl-Optionen gehandelt (die auch zu den Derivaten gehören). Dass sie danach Assistenzprofessorin für Computational Biology an der ETH Zürich geworden ist, zeigt, dass der Handel mit Derivaten mehr erfordert als ein paar Jahre Algebra an der Mittelschule.

Wenn sie über die Mathematik hinter den Derivaten spricht, klingt das so: «Die Black-Scholes-Gleichung ist eine partielle Differentialgleichung, die hat mehr als eine Dimension in den Ableitungen, und das macht es halt etwas schwierig.» Von der Chemie des Rohöls, mit dem sie handelte, versteht sie deutlich weniger als von Mathematik. Auf die Frage, ob sie das Öl je gesehen habe, lacht sie. «Natürlich nicht. Die Verträge wurden immer in den nächsten Kontrakt überrollt. Wäre das schiefgegangen und wären plötzlich eine Million Ölfässer vor Barclays gestanden, hätte man uns alle gefeuert.» Dagmar Iber hatte kein Interesse an der Ware selbst, sie war nur Zwischenhändlerin. Ihre Bank versuchte mit dem geschickten Kaufen und Verkaufen von Öl-Optionen Geld zu verdienen. Nach der gängigen Wirtschaftslehre sollte sich so an der Börse automatisch der faire Preis einstellen: der Verkäufer verdient nicht zu wenig, der Käufer bezahlt nicht zu viel.

Dass man das System der Derivate von Weizen auf Währungen übertrug, machte für die Händler keinen Unterschied. «Das System ist dasselbe», sagt Don Chance, Professor für Finanzdienstleistungen an der Louisiana State University, «man macht nichts anderes, als das Risiko weiterzugeben.» Doch in einer Hinsicht war der Unterschied enorm: Währungsfutures waren die ersten Derivate, deren Wert sich nicht von konkreten Gütern wie Weizen, Sojabohnen oder Orangensaftkonzentrat ableitete, sondern von virtuellen Grössen aus der Finanzwelt: den Wechselkursen.

Damit hatte die Idee, wie sich ein finanzielles Risiko absichern und damit spekulieren liess, die Artengrenze übersprungen: von der Welt aus Mais, Milch und Schweinebäuchen in die Welt aus Aktien, Hypotheken und Obligationen. Und das war entscheidend, denn der Finanzmarkt ist «extrem viel grösser als der Markt der Güter und Rohstoffe», sagt Don Chance. Die Menge Weizen, die es auf der Welt gibt, die Anzahl Aktiengesellschaften oder Immobilien ist beschränkt, aber die Möglichkeiten, über Derivate mit den Risiken in all diesen Märkten zu spielen, sind grenzenlos.

Das Wort Derivate hat seinen Ursprung im Lateinischen «derivare», was so viel heisst wie «ableiten». Das ist passend, weil sich der Wert eines Derivats immer von einem anderen Wert ableitet, vom Weizenpreis zum Beispiel, dem Wechselkurs oder dem Wert einer Aktie. Wer mit Derivaten handelt, kauft selber nicht Weizen oder Aktien, er handelt bloss mit dem Recht oder der Pflicht, in Zukunft ein Geschäft zu bestimmten Bedingungen abzuwickeln. «In mancher Hinsicht war es ein enormer Vorteil, sich nicht mehr mit den Gütern herumschlagen zu müssen, denn das ist teuer», sagt Don Chance. Derivate ermöglichen einem, mit Geld Geld zu verdienen.

Wie konnte mit Derivaten gewettet werden?

Inspiriert von den Währungsfutures, entwickelten Finanzexperten weitere und immer kompliziertere Derivate, mit denen es möglich wurde, sich gegen fallende Aktienkurse und steigende Ölpreise, gegen säumige Schuldner und die finanziellen Folgen schlechten Wetters abzusichern. Und so sind heute Forwards und Futures im Umlauf, Optionen und Warrants, es gibt Cap- und Collar-Geschäfte. Und alle Arten von Swaps, darunter auch die sogenannten Credit Default Swaps, das sind diese Versicherungen gegen Kreditausfälle, die in der jetzigen Krise eine grosse Rolle spielen. Wie wir in Teil 1 gesehen haben, beläuft sich ihr Gesamtbestand im Kapitalmarkt auf 60 000 Milliarden Dollar – die Kredite, die ihnen zugrunde liegen, belaufen sich auf lediglich 5000 Milliarden. Mit anderen Worten: Kredite von 5000 Milliarden Dollar werden für 60 000 Milliarden Dollar versichert.

Dieses Missverhältnis zeigt: Hier geht es um mehr als um den Wunsch, sich gegen Schwankungen abzusichern. Hier wird spekuliert. Wenn eine Firma um ihren Umsatz bangt, falls der Dollar sinkt, ist dies nur eine Seite des Geschäfts. Auf der anderen Seite muss jemand stehen, der die umgekehrte Erwartung hat, der also damit rechnet, dass der Dollarkurs steigt. Hätten alle die identische Erwartung, wäre kein Termingeschäft möglich. Das ist bei Pferdewetten nicht anders: Würden alle auf das gleiche Pferd setzen, käme keine Wette zustande.

Die Parallelen zur Pferdewette zeigen sich auch bei den Tradern. «Es ist wie ein Computerspiel, man ist die ganze Zeit unter Spannung», sagt Dagmar Iber, «wenn es mal nicht so viel zu tun gab, schlossen die Leute unter sich private Wetten ab. ‹Wetten, ich kann einen ganzen Monat nur von Pizza leben›, und solches Zeugs.»

«Mit der Einführung von Derivaten ist der spekulative Einfluss in den Finanzmärkten stark gestiegen. Manchmal wurden sie zum Schwanz, der den Hund bewegt», sagt Paul Meier, der nicht als Gegner der neuen Finanzinstrumente gelten kann: Meier handelt seit über 20 Jahren mit Derivaten und ist Präsident der Swiss Futures and Options Association (SFOA). Für ihn besteht die ganze Welt aus Derivaten. «Angenommen, Ihre Freundin hat in einem Monat Geburtstag. Um sicher zu sein, dass dann eine spezielle Geburtstagstorte auf dem Tisch steht, gehen Sie schon heute zum Bäcker und bestellen sie. Was heisst das? Sie kaufen einen Forward, also ein Derivat, und damit die Garantie, dass Ihnen in einem Monat diese Torte zum festgelegten Preis geliefert wird. Damit gehen Sie gleichzeitig auch die Verpflichtung ein, die Torte zu kaufen – selbst dann, wenn Ihre Freundin in einem Monat nicht mehr Ihre Freundin ist.»

Derivate liessen den Zeithorizont der Anleger von Jahren und Jahrzehnten auf Tage und Stunden schrumpfen. «Bevor Derivate aufkamen, hat sich die klassische Strategie in der Finanzanlage auf drei Tätigkeiten beschränkt: Buy, Hold, Sell», sagt Paul Meier, «man kaufte eine Aktie oder eine Obligation, legte sie in einen Safe, liess sich jedes Jahr die Dividende auszahlen, und irgendwann einmal wurden die Papiere vererbt oder ein Teil davon verkauft.»

Wertpapiere mussten physisch übertragen werden, das brauchte Zeit und war teuer, weil die Börsen darauf Gebühren erhoben. Mit Derivaten wurde das alles viel günstiger und einfacher.

In Deutschland galt der Handel mit Derivaten bis 1989 als Glücksspiel. In der Schweiz waren sie stets erlaubt, doch von Anfang an mussten die Banken die Anleger über die Risiken der Finanzinstrumente ins Bild setzen. In der Broschüre «Besondere Risiken im Effektenhandel» der UBS zum Beispiel stehen Sätze wie diese: «Achtung: Es gibt gewisse Derivate, bei denen Sie unter Umständen über den investierten Betrag hinaus Geld nachschiessen müssen. Eine solche Nachschusspflicht kann ein Mehrfaches des Kaufpreises betragen.» Den zweiten Satz muss man auf sich wirken lassen. Man investiert also zum Beispiel 10 000 Franken in ein Derivat, und für diese 10 000 Franken erhält man, wenn man Pech hat, nicht einfach nichts; man muss vielmehr, sagen wir, weitere 40 000 Franken einzahlen, um den Vertrag einzuhalten. Das ist der Stoff, aus dem persönliche Katastrophen gemacht sind.

Diese brutale Eigenschaft der Derivate, die einem unter glücklicheren Umständen erlaubt, mit sehr wenig Einsatz einen sehr grossen Gewinn einzufahren, heisst Hebeleffekt oder Leverage. Der Hebeleffekt liegt in der Natur der Derivate, weil man im Derivatehandel ja nicht das Kapital für beispielsweise eine Million Fass Rohöl oder 200 Aktien aufbringen muss. Man schliesst bloss eine Art Wette ab, wie sich der Rohöl- oder Aktienpreis in Zukunft entwickeln wird. Um ein solches Termingeschäft abzuschliessen, braucht es fast kein Geld. Um den Vertrag später einzuhalten, muss man unter Umständen aber sehr viel nachschiessen – oder man erzielt einen sehr hohen Gewinn.

Und dieses hohe Risiko wird von einem anderen Umstand noch verstärkt: Anders als Derivate von Weizen, Öl oder Aktien, für die es eine offizielle Börse gibt, wird ein grosser Teil der Derivate nicht öffentlich gehandelt. Es gibt also keine Börse, die von den Marktteilnehmern Sicherheiten verlangt, damit alle ihre Verpflichtungen auch einhalten. Diese privaten Geschäfte werden Over-the-Counter – über den Ladentisch – abgeschlossen. Und weil dabei die beteiligten Parteien unter sich bleiben, konnte es passieren, dass das Ausmass der Spekulation, die mit diesen Produkten betrieben wurde, fahrlässig unterschätzt wurde.

Was bedeutet eigentlich «strukturiertes Produkt»?

Schwankende Wechselkurse, Zinsen und Aktienkurse, die sich auf und ab bewegen, die Kreativität der Finanzleute: All dies hätte nicht ausgereicht, um den Derivaten zum Durchbruch zu verhelfen. Es brauchte noch ein paar kluge Köpfe, die dafür sorgten, dass sich die Preise dieser neuen Produkte bestimmen liessen. Denn zunächst war unklar, wie sich der Wert eines Derivats verändert, wenn sich der Wert des ihm zugrunde liegenden Basiswerts, zum Beispiel einer Aktie, verändert. Derivate waren mathematisch viel anspruchsvoller als Aktien oder Rohstoffpreise, aber die Unsicherheit dauerte nicht lange. 1973, die ersten Aktienoptionen waren eben zugelassen worden, gelang es den Wirtschaftswissenschaftern Fischer Black und Myron Scholes, die Formel auszutüfteln, mit der sich der Wert einer Option, eines der wichtigsten Derivate, bestimmen liess. (Wie Futures sind auch Optionen Termingeschäfte.)

Die Black-Scholes-Formel ist die von der früheren Optio­nenhändlerin Dagmar Iber genannte partielle Differentialgleichung, und sie ist so kompliziert, wie sie klingt. Auf dem Papier liess sie sich nicht lösen. Vielmehr mussten Computer das Resultat ermitteln, indem sie so lange neue Zahlen in die Gleichung einsetzten, bis sie stimmte. Das machte die Rechner zum festen Partner der Börsenhändler.

Was wir bisher über Derivate gesagt haben, entspricht leider nur der halben Wahrheit. Tatsächlich sind sie viel komplizierter und heissen auch nicht einfach Derivate, sondern strukturierte Produkte. Einer, der sie konstruiert, ist Richard Loretan, Leiter der Geschäftseinheit Strukturierte Produkte bei der Bank Julius Bär. Wenn er eines seiner Produkte aus der Kategorie Kapitalschutz erklärt, klingt das so: «Wir setzen das aus zwei Komponenten zusammen, aus einer festverzinslichen Anlage und einer Optionskomponente. Wir kaufen also zum Beispiel eine Obligation von unserer eigenen Bank. Den Zins davon zahlen wir dem Kunden aber nicht aus, sondern kaufen damit Optionen auf einen Aktienindex. Damit partizipieren wir an der Börsenentwicklung. Am Schluss der Laufzeit wird die Obligation zu 100 Prozent zurückbezahlt, inklusive des Ertrags der Optionen.»

Aber was macht das Team von Richard Loretan wirklich? Man stellt sich das am besten vor wie die Herstellung von Medikamenten. Wir sind in einem Labor und haben alle möglichen Wirkstoffe zur Verfügung – da sind die einzelnen Derivate, also Futures, Optionen, Swaps und was es sonst noch gibt. Aber wer will schon drei, vier verschiedene Mittel schlucken, wenn er mit einer einzigen Pille zum gleichen Ergebnis kommt? Also werden die Substanzen gemischt. Die Kunst des Pharmazeuten besteht darin, die Wirkstoffe immer neu zu kombinieren. Danach muss er die Ärzte und Patienten von den Vorteilen überzeugen.

Um ein strukturiertes Produkt herzustellen, nimmt Loretan also herkömmliche Wertpapiere wie Aktien oder Obligationen und verbindet diese mit Optionen, Futures oder anderen Derivaten. Dabei entstehen dann Produkte, die Namen tragen wie Bear Tracker, Airbag-Zertifikat oder Trigger Reverse Convertible. Es sind Konstruktionen, in denen Sachen stecken können wie eine Shark Note, ein Cap oder ein Knock-out. Allerdings lässt sich die Grundidee einfach umschreiben: Wer ein strukturiertes Produkt kauft, erwirbt damit das Recht auf eine bestimmte, im voraus definierte Auszahlung. Das können wiederkehrende Beträge sein, ähnlich einem Zins, und zum Schluss wird einem mehr oder weniger vom ursprünglichen Kapital wieder zurückbezahlt. Wobei die Auszahlungen von bestimmten Ereignissen abhängen, von der Preisentwicklung einer Aktie etwa oder vom Kursverlauf des Dollars.

Muss man verstehen, wie dieser Mechanismus genau funktioniert? Nochmals Richard Loretan: «Natürlich versuchen wir, unseren Kunden die Struktur hinter den Produkten zu erklären. Wichtig ist für sie aber in erster Linie, dass sie das Auszahlungsprofil verstehen.»

Mit anderen Worten: Die Kunden ahnen, dass sich damit Geld verdienen lässt, mehr wollen sie gar nicht wissen. Aber wo ist der Haken? Wenn man ein Produkt mit Kapitalschutz wählt, nirgends – haben die Finanzleute zumindest lange gesagt. Es liegt ja ein Vertrag mit einer Bank vor, der die Rückzahlung des Kapitals garantiert – allerdings unter der stillschweigenden Annahme, dass die Bank, die die Produkte herausgibt, nicht bankrottgeht. Und das ist heute nicht mehr so unwahrscheinlich wie noch vor einem Jahr. Im September 2008 ging die amerikanische Investmentbank Lehman Brothers konkurs. Die strukturierten Produkte, die sie für Milliarden verkauft hatte, wurden von einem Tag auf den andern wertlos.

An dieser Stelle ist vielleicht eine kurze Zusammenfassung hilfreich: In den 1970er Jahren begannen die Währungen zu schwanken und lösten bei Exportfirmen den Wunsch nach Absicherung aus. Diese Absicherung konnte mit Währungsfutures erreicht werden. Währungsfutures wiederum brachten die Finanzexperten auf die Idee, weitere Derivate zu erfinden, die dann einen enormen Aufschwung erlebten, unter anderem, weil sie erlaubten, mit kleinem Einsatz grosse Gewinne zu machen. Derivate werden im Finanzmarkt als wichtigste Erfindung des letzten Jahrhunderts angesehen, doch ohne die Deregulierung des Finanzmarktes hätten sie ihre gewaltige Wirkung nicht entfalten können.

Warum wurde der Finanzmarkt liberalisiert?

Das Aufheben von Regeln, wofür der Begriff der Deregulierung steht, war alles andere als ein linearer Prozess. An einem Ort wurden Vorschriften gelockert, an einem anderen verschärft, manches wurde strenger, anderes weniger streng kontrolliert. Vor allem wurden die Vorschriften ausführlicher. «Die ersten Richtlinien für die Zulassung von Aktien und Obligationen an der Börse hatten auf einem A4-Blatt Platz, heute gibt es dazu ein 1000-seitiges Handbuch», sagt Dieter Sigrist, seit 1983 Sekretär des Verbandes Zürcherischer Kreditinstitute.

Nach der strikten Kontrolle des Finanzbereichs, die von der Weltwirtschaftskrise 1929 bis Ende der 1950er Jahre anhielt, konnte das Kapital nach und nach freier von einem Land ins andere zirkulieren, der Spielraum von Banken und Investoren vergrösserte sich, der Wettbewerb wurde intensiver, und damit fielen auch die jahrelang üblichen Absprachen zwischen den Banken weg. Lassen wir Dieter Sigrist erklären, wie das damals war auf dem Zürcher Bankenplatz: «Ich musste einen Vorschlag für die Schalteröffnungszeiten für das neue Jahr machen, zum Beispiel, dass die Banken die Schalter am Samstag geschlossen halten sollten. Dieser Vorschlag wurde dem Vorstand unterbreitet, der Beschluss wurde den Mitgliedern mitgeteilt, und die hielten sich dann in der Regel daran.»

Natürlich waren nicht nur die Öffnungszeiten regle­mentiert. Fixiert waren auch die Gebühren, etwa für die Eröffnung eines Kontos oder die Führung eines Wertschriftendepots. Ein Zinskartell regelte die Höhe der Hypothekenzinsen. Für den Verkauf und Kauf von Aktien und Obligationen wurde ein fester Betrag verlangt, die sogenannte Courtage. Die Banken legten sogar die Preise für die Werbegeschenke fest, die sie ihren Kunden geben durften. «Das Bankgeschäft war gemütlicher als heute, man hatte noch Zeit für ein ruhiges Mittagessen», sagt Dieter Sigrist. Doch schon bald sollte es ungemütlich werden. Die Courtagen und andere fixe Gebühren, die für stabile Einnahmen gesorgt hatten, wurden aufgehoben. Neue Händler erhielten Zugang zur Börse, die über Jahrzehnte einem exklusiven Club vorbehalten gewesen war.

In den USA begann diese Deregulierung Mitte der 1970er Jahre, als die neoliberalen Ideen Milton Friedmans in die Wirtschaftspolitik einflossen. Freie Finanzmärkte, so Friedmans Überzeugung, würden am besten dafür sorgen, dass das Kapital an den richtigen Ort gelange: dorthin, wo die grösste Wertschöpfung zu erwarten ist, wo die Investitionen also am meisten bewirken. In Europa wurden die Bankkartelle erst zehn Jahre später aufgebrochen. Hier spielte die britische Premierministerin Margaret Thatcher eine wichtige Rolle, die 1986 die Regeln an der Londoner Börse änderte. Thatchers Reform ging als Big Bang, als Urknall, in die Geschichte der Finanzbranche ein.

Auch wenn der Wandel in der Schweiz nicht ganz so abrupt verlief, gross war die Erschütterung dennoch. 1986 fasste Nicolas J. Bär, damals Präsident der Zürcher Börse, die Stimmung so zusammen. «Wir befinden uns in einer hektischen Zeit. Es brodelt an allen grossen Finanzmärkten: Deregulierung, Liberalisierung, Internationalisierung, Konkurrenz bis aufs Messer, 24-h-Handel, Inflation der Handelsinstrumente, die EDV greift stürmisch um sich. In dieser Hexenküche mitzuhalten, ist nicht einfach.»

In diesem Umfeld blühte in den USA ein Bankentyp auf, der auf Risiko programmiert war: die Investmentbanken. Ihre Rolle in der Krise muss bedeutend gewesen sein, denn sie wurden alle weggefegt. (Die erwähnten Wall-Street-Banken in Teil 1 und 2 waren Investmentbanken.) Und auch die Verluste, die andere Banken in dieser Krise erlitten haben, sind zum grössten Teil in den Investmentbanking-Abteilungen entstanden. Das war bei den beiden Schweizer Grossbanken nicht anders.

Schauen wir uns also das Geschäftsmodell der Investmentbanken an: Normale Geschäftsbanken nehmen von ihren Kunden erspartes Geld an und leihen es in Form von Krediten wieder aus; Investmentbanken geben auch Kredit, allerdings nicht an Personen und nicht als Darlehen. Sie verhelfen Firmen und der öffentlichen Hand vielmehr zu Geld, indem sie für diese Aktien oder Obligationen herausgeben. Diese Wertpapiere verkaufen sie dann an Anleger.

Das war das traditionelle Geschäftsmodell der Investmentbanken, und es bescherte ihnen über Jahre ordentliche Einnahmen. So lange eben, bis die fixen Gebühren wegfielen, bis der Markt dereguliert wurde und neue Konkurrenten die Margen unter Druck brachten. Die Investmentbanken gerieten in Bedrängnis und mussten sich nach neuen Einnahmequellen umsehen. Und die fanden sie im sogenannten Eigenhandel. Zuvor hatten sie die Wertpapiere, die sie herausgaben, sofort weiterverkauft. Jetzt behielten sie sie und handelten damit. Dadurch erhöhte sich das Risiko ihres Geschäfts, denn von jetzt an konnten fallende Kurse ihr Kapital vernichten.

Lange Zeit ging alles gut. Das wirtschaftliche Umfeld war günstig, die Zinsen waren tief, die Kurse der Wertpapiere kletterten. Aber Investmentbanken handelten nicht bloss mit Wertpapieren, die sie selbst ausgestellt hatten, sie kauften sie auch von anderen Banken dazu. Und natürlich waren auch Derivate darunter und natürlich auch die hochriskanten Immobilienpapiere, die weit weniger wert waren als angenommen. Und zu allem Übel taten sie es nicht nur mit eigenem Geld, sie verschuldeten sich massiv.

Die Investmentbanken waren von traditionellen Wertpapierhäusern zu reinen Spekulanten geworden. Für die Investmentbanker lohnte sich das. Ein stattlicher Anteil der Gewinne, die sie für ihren Arbeitgeber erzielten, floss als Bonus in ihre eigenen Taschen. Dann brach der Immobilienmarkt zusammen und damit auch der Preis der Wertpapiere, die davon abgeleitet waren. Und so kam es, dass sich im Herbst 2008 das Geschäftsmodell der Investmentbanken in Luft auflöste. Die fünf grössten in den USA verschwanden vom Markt: Lehman Brothers ging konkurs, Merrill Lynch und Bear Stearns wurden von Geschäftsbanken übernommen, Goldman Sachs und Morgan Stanley beantragten eine Lizenz als gewöhnliche Geschäftsbank. «Die Investmentbanken hatten ihr Geschäftsmodell total verdreht. Jetzt sind sie alle ausgestorben», sagt Ingo Walter, Professor für Finanzen und Ethik an der Stern School of Business in New York.

Das Problem beschränkte sich nicht auf die Investmentbanken. Die Geschäftsbanken blickten nämlich neidisch auf die grossen Gewinne, die sich im Investmentbanking erzielen liessen. Und es blieb nicht beim Schauen: Die Schweizer Grossbanken gaben Milliarden dafür aus, um solche Geldmaschinen zu kaufen. So gerieten First Boston, S. G. Warburg und weitere Investmentbanken in Schweizer Hände. Auch die amerikanischen Geschäftsbanken wollten teilhaben an diesem Geschäft. Weil sie Spargelder entgegennahmen, war ihnen der risikoreiche Eigenhandel aber verwehrt. Dafür sorgte der Glass-Steagall Act von 1933, der eine klare Trennung zwischen den beiden Bankentypen festschrieb. Und so lobbyierten sie erfolgreich für eine Lockerung des Gesetzes: 1999 wurde der Glass-Steagall Act aufgehoben. Von da an konnten auch die US-Geschäftsbanken im grossen Stil Eigenhandel betreiben – auch mit Spargeldern. Und in der Krise erlitten dann alle Milliardenverluste.

Warum ist die Verbriefung gefährlich?

Ein Verfahren, das die Banken bis zum Exzess anwendeten, stellte sich als besonders fatal heraus: die Verbriefung, englisch Securitization. In Teil 1 des Hefts wurde die Verbriefung anschaulich vorgeführt: Der mittellose Clarence Nathan erhält von einem Makler eine Hypothek; der Makler verkauft die Hypothek an eine kleine Bank weiter; die kleine Bank verkauft die Hypothek mit Hunderten weiterer Hypotheken an eine Investmentbank weiter; in der Investmentbank werden Tausende von Hypotheken gebündelt, zerteilt und als Wertpapiere auf dem Finanzmarkt verkauft. Die Bank verdient an den Gebühren. Die Hypothekarzinsen der Häuserkäufer fliessen an jene, die diese Wertpapiere – Mortgage Backed Securities, zu deutsch hypothekarisch besicherte Wertpapiere – gekauft haben: andere Banken, Investmentfonds, Versicherungen in aller Welt.

Die Verbriefung ist also, kurz gesagt, die Verwandlung eines Kredits in ein handelbares Wertpapier. Ohne Verbriefung lässt sich ein Kredit nicht einfach so weitergeben, er bleibt in der Bilanz der Bank, die ihn ursprünglich erteilt hat, erscheint dort also bis zum Ende der Laufzeit als ausstehendes Geld, das nicht mehr für andere Geschäfte gebraucht werden kann.

Bei Hypothekarkrediten hat die Verbriefung eine lange Tradition: Seit 1930 gewähren etwa in der Schweiz die Pfandbriefzentrale und die Pfandbriefbank ihren Mitgliedbanken Darlehen gegen Verpfändung von Hypotheken, bündeln sie und geben darauf den Schweizer Pfandbrief aus, den man an der Börse als Anlage kaufen kann. Entscheidend ist dabei: Das Risiko von Zahlungsausfällen tragen nicht die Pfandbriefkäufer, sondern die Banken und das Pfand­brief­institut, die deshalb die Kreditwürdigkeit ihrer Schuldner genau prüfen. Pfandbriefe sind so sicher wie Staatsobligationen – seit es den Markt gibt, gab es noch nie einen Ausfall – und gelten als entsprechend langweilig.

Jörg Schmid, Direktor der Pfandbriefbank, erinnert sich daran, wie Ende der 1990er die Investmentbanker zu ihm kamen und verkündeten: «Schmid, du musst dir einen neuen Job suchen. Das Pfandbriefwesen ist tot, jetzt kommen wir mit unseren Verbriefungen.» Es stellte sich aber bald heraus, dass Verbriefungen in der Schweiz zu kompliziert und teuer sind. «Eine Verbriefung ergab einen Laufmeter Bundesordner mit Verträgen in Englisch, aufgebaut nach angelsächsischem Rechtsverständnis. Und die Honorare für die Investmentbanker waren horrend.» Darum setzte sich die in den USA so erfolgreiche Verbriefung in der Schweiz nicht durch.

Jene Verbriefungen, die zur grossen Finanzkrise beigetragen haben, unterscheiden sich in einem zentralen Punkt von den langweiligen Pfandbriefen: Sie geben das Risiko des Zahlungsausfalls, wenn ein Schuldner seine Hypothek nicht mehr bezahlen kann, an die Käufer dieser Wertpapiere weiter. Das ist eigentlich keine schlechte Idee, denn auf dem weltweiten Kapitalmarkt tummelt sich eine riesige Zahl von Investoren. Warum sollte man Risiken nicht an jene weiterreichen, die sie eingehen können und wollen?

Das Problem war bloss, dass die Risiken durch die Verbriefung so verschleiert wurden, dass man sie nicht mehr richtig einschätzen konnte. Denn bei der einfachen Verbriefung blieb es nicht. Die Banken bündelten Hypotheken zu Tausenden, teilten sie auf in Tranchen, verbrieften sie, bündelten die Verbriefungen, teilten sie wieder in Tranchen auf, verbrieften sie wieder. Doch weshalb gewährten die Banken überhaupt Hypotheken, wenn sie sie verbrieft als Wertpapier gleich weiterverkauften? Angetrieben wurde dieses Geschäft von hohen Margen für alle Beteiligten: Der Makler kassierte für die Vermittlung der Hypothek, die Bank für die Bündelung, die Juristen für die Verträge, die Ratingagenturen für die Bewertung. So verdienten sie alle bis zu 9 Prozent der Gesamtsumme. Bei einem normalen Hypothekengeschäft verdient die Bank bloss 0,5 bis 1,5 Prozent.

Dass diese Wertpapiere solch reissenden Absatz fanden, lag auch an der hohen – und, wie wir heute wissen, falschen – Bewertung durch die Ratingagenturen. Ihren Berechnungen lagen Zahlen aus einer Zeit zugrunde, in der es kaum Ausfälle gab, das heisst, die allermeisten Hausbesitzer ihre Schulden bezahlen konnten. So kam es, dass 90 Prozent der minderwertigen Subprime-Hypotheken zu Wertpapieren verbrieft wurden, die ein AAA erhielten. AAA bedeutete: bei einer Anlage besteht so gut wie kein Ausfallrisiko. Diese angeblich sicheren Wertpapiere fanden ihren Weg in die Portefeuilles von Investoren in aller Welt, von Spitälern in Australien bis zu Kleinstädten in Norwegen.

Konrad Hummler, Teilhaber der Privatbank Wegelin, hat dafür eine handfeste Metapher geprägt. Er vergleicht die Entwicklung im Finanzsystem der letzten zwanzig Jahre mit dem «Aufbau einer gigantischen Wurstproduktion»: «Während früher reale Einzelstücke – Hypotheken oder Geschäftskredite als Filets oder Haxen sozusagen – integral placiert wurden, wird heute zerhackt, vermengt, gewürzt und verpackt.» Das traditionelle Bankensystem, also die Metzger, hätte die wachsende Nachfrage nach Anlagemöglichkeiten ohne die Wurster gar nicht bewältigen können. Sobald aber bekannt wurde, dass auch Gammelfleisch in diese Verbriefungswürste gelangte, war das Vertrauen der Käufer schlagartig weg – der Markt für solche Kreditinstrumente brach ein, wie es der Fleischmarkt in der BSE-Krise getan hatte.

Wie viel Eigenkapital braucht eine Bank?

Die Verbriefungen wurden so populär, weil sie erstens die Anlagemöglichkeiten am Finanzmarkt erweiterten und zweitens die Bilanzen der Banken entlasteten. Um letzteres zu verstehen, müssen wir in die 1980er Jahre zurückblenden. Im international gültigen Basler Abkommen von 1988, das unter dem Namen Basel I bekannt ist, wurde den Banken vorgeschrieben, wie viel Eigenkapital sie im Verhältnis zu den ausstehenden Krediten halten müssen. Das Eigenkapital garantiert die Zahlungsfähigkeit der Bank, damit kann sie Verluste auffangen, wenn ihre Kreditnehmer konkursgehen und die Schulden nicht mehr zurückzahlen können. Aber wie viel Eigenkapital ist genug? Acht Prozent, empfahlen die wichtigsten Bankenaufseher der Welt, die das Basler Abkommen aushandelten. Eine Bank, die 8 Millionen Franken Eigenkapital hat, konnte also Kredite bis höchstens 100 Millionen Franken vergeben.

Was brachte die Zentralbanken dazu, den Banken diese Eigenkapitalerfordernisse vorzuschreiben? Sie wollten die Stabilität im internationalen Bankensystem erhöhen. Der Übergang zu flexiblen Wechselkursen hatte in den 1970er Jahren zu heftigen Schwankungen geführt, und es dauerte nicht lange, da forderte das neue System bereits das erste Opfer: 1974 brach das Kölner Bankhaus Herstatt zusammen. Es hatte sich mit Währungsgeschäften verspekuliert, und das Eigenkapital genügte nicht zur Deckung der Verluste. Noch im gleichen Jahr wurde der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht ins Leben gerufen, aber es dauerte bis 1988, bis die Vorschriften von Basel I feststanden.

Die Banken verhielten sich so, wie sich Wirtschaftssubjekte in aller Regel verhalten: Sie suchten nach Wegen, die Auflagen mit möglichst geringem Aufwand zu erfüllen. Also ohne dass sie mehr Eigenkapital benötigten. Einen Weg dazu eröffnete die Verbriefung. Damit gelang es den Banken, ihre Kredite aus den Bilanzen zu entfernen. Und verbriefen lassen sich nicht nur Hypotheken: Autokredite, Leasingverträge, Studentendarlehen, Kreditkartenschulden – grundsätzlich lässt sich alles in Würste abpacken. Was immer gleichbleibt: Mit der Verbriefung wird die ­langfristige Beziehung zwischen Schuldner und Gläubiger aufgebrochen. Die Kreditwürdigkeit des Schuldners wird zweitrangig: Wer einen Kredit sowieso weiterverkauft, ist das Risiko los. Damit nimmt das Risikobewusstsein über die Verbriefungskette hinweg ab – aber nicht das Risiko. In den Vorschriften von Basel I wurden die Kredite nach Risikoklassen unterschieden: nicht alle mussten mit gleich viel Eigenkapital unterlegt sein. Aber die Kategorisierung erwies sich als zu starr für die neuen Finanzinstrumente. Darum wurden die Vorschriften 1996 und 2004 überarbeitet.

Zwar änderte sich mit Basel II nichts am ursprünglichen Ziel: Die Banken sollten über ausreichend Eigenkapital verfügen. Aber jetzt war es ihnen erlaubt, ihre Kreditgeschäfte selber einzuschätzen – mit den komplizierten mathematischen Risikomodellen, die sie dafür entwickelt hatten. «Das hatte schwerwiegende Folgen», sagt Daniel Heller, Leiter der Abteilung Finanzsysteme bei der Schweizerischen Nationalbank. «Bei der Berechnung der Eigenkapitalerfordernisse hat man systematische Fehler gemacht. Man hat die geringen Preisschwankungen der zurückliegenden Jahre als Basis genommen und kam so auf viel zu tiefe Erfordernisse.»

Andere brauchen stärkere Worte, wenn sie über Basel II reden. Kurt Schiltknecht zum Beispiel. Er war früher auch bei der Nationalbank tätig, wechselte aber vor Jahren in die Privatwirtschaft. «Basel II war ein Riesenfehler. Als Folge davon lagerten die Banken die Risiken aus. Überraschend ist das nicht: Jede Regulierung schafft Anreize, sie zu umgehen.» Ob unklug oder dumm: die Auswirkungen waren dramatisch. 1996 betrug das Verhältnis von Eigenkapital zur Bilanzsumme bei den Schweizer Grossbanken noch 1 zu 11; zehn Jahre später war der Lever­age, wie das Verhältnis auch genannt wird, auf 40 gesprungen. Die Bilanzsumme war also 40 Mal grösser als das ­Eigenkapital. Darum gerieten die Banken ins Wanken, als die Hypothekenkrise losbrach: Sie hatten nicht genügend Eigenkapital, um ihre Milliardenverluste aufzufangen.

Lange glaubte man, die ausgeklügelten Risikomodelle der Banken würden die tatsächlichen Risiken erfassen. Die Banken ­erfüllten die Auflagen und brachten dennoch riskante Konstrukte als nahezu risikofrei durch, womit sie ihr Eigenkapital geringhalten konnten. Wussten die Banken überhaupt, welche Risiken sie mit ihren komplizierten Finanzinstrumenten tatsächlich eingingen? Es ist kein Geheimnis, dass die komplizierten Risikomodelle der Physiker und Mathematiker von der operativen Führung der Banken kaum verstanden wurden.

Ist die Gier des Menschen schuld?

Heute wissen wir, dass der smarte Banker ebenso wenig begriff, welche Risiken er einging, wie der naive Kleinanleger, der seine Ersparnisse in Wertpapiere mit attraktiver Rendite steckte. Ist das, was die beiden verbindet, die Gier, der eigentliche Motor des Finanzmarkts? «Mein Chef sagte mir einmal, die drei Eigenschaften, die ein Trader mitbringen müsse, seien: Intelligenz, ein Auge fürs Detail und Gier», sagt Dagmar Iber. «Die Gier hat bei mir gefehlt, sonst wäre ich immer noch Optionenhändlerin und verdiente das Zehnfache meines jetzigen Gehalts.» Die heutige Biologieprofessorin sieht durchaus Parallelen zwischen der Biologie und der Finanzindustrie: «Die Auf-und-ab-Zyklen, die man im Finanzmarkt sieht, gibt es in jedem Räuber-Beute-System, die kommen daher, dass der Räuber immer gierig ist.»

«Die Krise wurde von kollektiver Gier verursacht, die vorausschauende Entscheidungen verhinderte», sagt der amerikanische Psychologe Philip Zimbardo. Die Menschen hätten die langfristigen Kosten nicht gegen die sofortige Befriedigung eines Bedürfnisses abgewogen. Bei den Investmentbankern lässt sich dieses Verhalten fast lehrbuchmässig studieren. Sie verstanden es, mit riskanten, das heisst äusserst komplizierten und mit viel zu wenig Eigenkapital gesicherten Geschäften ihr Bedürfnis nach hohen Bonuszahlungen sofort zu befriedigen. Um die langfristigen Gefahren kümmerten sie sich nicht. «Es herrschten falsche Anreizstrukturen», sagt der Banker Kurt Schiltknecht. «Die Bankmanager wurden für ein Verhalten belohnt, das sich nicht nur für die Bank, sondern für die ganze Volkswirtschaft als desaströs erwies.»

Doch nicht nur unkontrollierte Gier kann zum Desaster führen. Das zeigt uns die Neuroökonomie, eine junge Wissenschaft, die Hirnforschung, Psychologie und Ökonomie verbindet. Sie betrachtet den Menschen als soziales Wesen mit Emotionen, das auch höchst irrational handelt. Zum Beispiel übertrieben optimistisch, wenn das Geschäft gut läuft, dem Herdentrieb folgend und Gefahren ignorierend.

Am Anfang von Teil 3 haben wir gesagt: Es ist einiges schiefgelaufen, und es gibt mehrere Schuldige. Auf unserer Reise durch die Geschichte des Finanzmarkts haben wir gesehen, wie sie miteinander in einem System verknüpft sind. Das System wird jetzt mit milliardenschweren Rettungspaketen gestützt, gleichzeitig versucht man es zu bändigen: Spielregeln für den Umgang mit Derivaten werden angepasst, die Banken müssen mehr Eigenkapital halten, neue Bonus­systeme werden eingeführt und so weiter.

Aber machen wir uns keine Illusionen: Ein dauerhaft stabiles Finanzsystem gibt es nicht, spekulative Blasen werden sich immer bilden. John Kenneth Galbraith hat sie 1990 in «A Brief History of Financial Euphoria» analysiert. Es dauert im Schnitt zwanzig Jahre, rechnete der Harvard-Ökonom aus, bis die Menschen eine Finanzkrise vergessen haben. Danach verhalten sie sich wieder so, als ob Aktienkurse oder Immobilienpreise für immer steigen würden. Wenn wir uns die letzten Krisen vergegenwärtigen – 1987 der Black Monday, 1997 die Asienkrise, 2001 die Internetblase, 2008 die Subprime-Krise –, so scheint es, als sei das menschliche Gedächtnis schwächer geworden.