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Tramgruss

Als «Stadtfahrer» in «20 Minuten»

Tramführern werden besondere Wesenszüge nachgesagt. Besonders eigenartig, das sagen zumindest meine Freunde, ist der Gruss unter Tramführern. Egal wo auf Zürichs Gleisen sich zwei Trams kreuzen, man kann sicher sein, die beiden Lenker heben gewissenhaft die Hand zum Gruss, winken sich innig zu. Ganz so als hätten sie sich seit Wochen nicht mehr gesehen. Dabei begegnen sie sich während des Dienstes zwei- bis dreimal, pro Stunde.
Auch ich habe lange zu jenen gehört, die über diese Gebärdensprache geschmunzelt haben. Bis ich Tramführer geworden bin. Nun sind mir die Grussregeln geläufig. Und muss ich gestehen: Wann immer sich mir eine Kollegin oder ein Kollege im Tram oder im Bus nähert, ich grüsse pflichtbewusst.
Obwohl es sich ja nicht um eine eigentliche Pflicht handelt. Es ist mehr eine Frage des Anstands, den Gruss zu erwidern. Wer nicht grüsst, sagte mein Fahrlehrer immer, gilt als hochnäsig. Mit den Handzeichen zeigt man, dass man zur gleichen Firma gehört. Und es lassen sich Lebenszeichen austauschen, was nötig ist, schliesslich sitzt man den ganzen Tag alleine in der Kabine. Dieses Bedürfnis kennen übrigens auch die Lokführer der SBB. Wenn die sich kreuzen, habe ich mir sagen lassen, wird rege gestikuliert, selbst bei 100 km/h.
Ich rede hier nicht von Kleinigkeiten. Hier handelt es sich um eine körperliche Tätigkeit. In Zahlen: Exakt 223 Mal habe ich kürzlich meine Hand zum Gruss gehoben, als ich fünf Stunden auf der Linie 3 zwischen Klusplatz und Albisrieden hin- und herfuhr. Nicht nur das Ausmass, auch die Erwiderungsquote meiner Kolleginnen und Kollegen ist rekordverdächtig. Ganze 204 haben meinen Gruss erwidert, über 90 Prozent.
Nicht auf allen Strecken wird gleich gegrüsst. In Reinform lässt sich die strassenbahnerische Gebärdensprache auf den langen Linien erleben. Hier gehen die Zeichen vom coolen Heben des Zeigefingers über das schulmässige Aufstrecken der Hand bis zum energischen Schwenken des ganzen Armes. Die reduzierten Formen kommen auf den kurzen Strecken zum Einsatz, etwa auf der Linie 5 zwischen Bahnhof Enge und Kirche Fluntern. Hier trifft man im Schnitt alle 20 Minuten auf den gleichen Kollegen, so dass sich der Gruss bald in einer müden Handbewegung oder einem ironischen Lächeln erschöpft.
Ob Kurz- oder Langform: Beim Tramführergruss muss es sich um einen Reflex handeln. Anders kann ich mir es nicht erklären, weshalb ich im Schwamendinger Tunnel grüsse, wo sich mir Trams in völliger Dunkelheit begegnen. Oder bei irgendwelchen Lastwagen, die mir in die Nähe kommen. Es genügen die groben Umrisse, und meine Hand hebt sich wie von selbst.
Wobei der Reflex nicht angeboren war. Ganz am Anfang, während der Fahrschule, war ich zu stark mit den Hebeln und Knöpfen in der Kabine beschäftigt und hatte keine Hand frei. Doch mit den fahrerischen Fortschritten wuchs mein Grussvermögen. Dies war auch nötig. Das Repertoire musste erweitern werden, damit ich auch jene Tramführer grüssen kann, die draussen an einer Haltestelle auf ihren Einsatz warten. Zur Perfektion der Grussformel gehört allerdings noch mehr. Zuletzt gilt es auch die Kollegen zu grüssen, die in der Freizeit ein Tram besteigen. Das ist wegen der fehlenden Uniform erheblich anspruchsvoller, weshalb ich noch immer daran arbeite.