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Das Magazin Ein Tag im Leben

Ein Tag im Leben

Das Magazin, 8. November 2003

Thomas Schenk, 37, war früher Journalist. Heute fährt er Tram. Und jetzt versteht er auch, warum der Chauffeur den Passagieren manchmal vor der Nase wegfährt.

Am liebsten hab ich Frühdienst. Wecker abstellen, ein Glas Wasser trinken, Zähne putzen, Uniform anziehen und ab aufs Velo. Wenn ich Glück habe, begegnet mir auf dem Weg zum Depot Kalkbreite ein Fuchs, der gerade Zürichs Hausmüll verwertet. Auf mein Velo kann ich bei meiner Arbeit nicht verzichten, denn morgens um halb fünf fahren noch keine Trams. Allerdings steige ich auch tagsüber nur selten ins Tram. Das geht mir, im Vergleich zum Zweirad, einfach zu wenig schnell. Ausser wenn ich selbst fahre, denn ich bin Tramchauffeur bei den VBZ.

Seit Mitte Jahr fahre ich Tram. Vorher habe ich jahrelang als Journalist gearbeitet, die letzten vier Jahre davon als freier. Nun brauchte ich einen Wechsel, möglichst radikal, ich wollte einen Job, bei dem ich mich nicht selbst antreiben muss. So kam ich auf die Idee mit dem Tram. Hier sind Arbeitszeiten und -inhalt unmissverständlich vorgegeben, und da muss man keine Energie aufbringen, um sich zu motivieren.

Die fixe Struktur wird dich fertig machen, sorgten sich meine Freunde, die Monotonie, das Verkehrsgetümmel, das hältst du nicht aus, meinten sie. Sie liegen ganz falsch. Es geht mir blendend. Gut, früher konnte ich mich bei Sonnenschein spontan für eine Velotour über den Pragelpass entscheiden, brauchte für Ferien keinen Chef zu fragen.

Jetzt ist mein persönlicher Spielraum auf die Grösse eines A4-Blattes geschrumpft. So wenig Platz braucht es, um meinen Dienstplan für ein ganzes Jahr festzuhalten. Nun weiss ich zum Beispiel, dass ich nächsten Samichlaus um 15 Uhr 44 mit der Linie 2 loszufahren habe. Was unbestreitbare Vorteile hat. Mein Arbeits- und Privatleben sind klar getrennt voneinander, ich brauche nicht länger an Wochenenden Experten oder Promis anzurufen für ein Zitat, das ich schon im Voraus hätte schreiben können. Und für gelegentliche Schreibarbeiten bleibt mir immer noch genügend Zeit.

Hast du eine Lieblingslinie?, wollen meine Freunde wissen. Bis jetzt nicht. Egal, ob ich die Nummer 2, 3, 9 oder 14 fahre, wo ich meistens eingesetzt bin, jede hat ihren Reiz. Ich kann Wolken, Häusersilhouetten, Denkmäler und vor allem Menschen beobachten, wenn sie aus dem Bahnhof quellen, Trams hinterherrennen oder sich sonstwie verrenken. Ein besonderes Vergnügen ist die zwei Kilometer lange Tunnelfahrt zwischen Milchbuck und Schwamendingen. Mit sechzig Stundenkilometern in die völlige Dunkelheit zu brausen, da hatte ich die ersten paar Male schon ein mulmiges Gefühl. Jetzt geniesse ich dieses Grossstadt-Feeling.

Besonders schwierig ist das Tramfahren nicht. Eigentlich. Dreht man das Kontrollrad nach rechts, setzen sich die fünfzig Tonnen gehorsam in Bewegung, nach links wird gebremst. Um die Fahrtrichtung braucht man sich nicht gross zu kümmern, dafür sorgen die Schienen. Und auch die Verkehrsregeln sind recht simpel: Das Tram hat immer Vortritt, vereinfacht gesagt. So ist man nach zwei Monaten Ausbildung schon alleine auf Zürichs Geleisen unterwegs.

Was das Ganze schwierig macht, sind die vielen internen Regeln der VBZ. Jede Kurve hat eine exakt vorgeschriebene Geschwindigkeit, es gelten spezielle Vortrittsregeln unter den Trams. Und dann sind da noch die Weichen, 130 Stück auf dem ganzen Tramnetz. Die verlangen am meisten Konzentration, obwohl sie seit einem Jahr automatisch schalten. Ständig muss man auf eine Störung gefasst sein, eine eingeklemmte Pet-Flasche zum Beispiel oder ein abgebrochener Ast. Dann muss man sofort bremsen können, damit das Tram nicht entgleist oder falsch abbiegt.

Meine grösste Herausforderung ist aber der Fahrplan. Diesen gilt es einzuhalten, wofür ein Bordcomputer sorgt, der alle Abweichungen vom vorgegebenen Takt anzeigt. Auf dreissig Sekunden genau. Zeit geht schnell verloren, vor Ampeln, bei grossem Andrang an Haltestellen oder bei Baustellen. Zeit aufzuholen, ist meist ausgeschlossen, dafür sind die Fahrzeiten zu spitz kalkuliert. Was bleibt, sind Zeitpuffer von ein paar Minuten an gewissen Endhaltestellen. Bin ich also verspätet unterwegs, fällt meine Pause aus und damit die Zwischenverpflegung oder der Gang aufs WC. Womit auch die besondere Kunst von Zürichs Tramfahrern erklärt wäre: den Passagieren regelmässig vor der Nase wegzufahren.