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NZZ Mit Bibel und Skalpell

Mit Bibel und Skalpell

NZZ am Sonntag, 29. Juni 2003

Am Morgen entfernen sie kostenlos Tumore. Am Abend vertauschen die Ärzte der «Anastasis» das Skalpell mit der Bibel, um den Ärmsten dieser Welt das Evangelium näher zu bringen. Ein Besuch bei den Missionaren des 21. Jahrhunderts auf der grössten privaten Schiffsklinik der Welt.

Vor der Operation betet der Pfleger noch einmal mit dem Patienten. Essifou Aliou, 33, schliesst die Augen und faltet die Hände. Gott soll ihm in den nächsten Stunden beistehen. Ein Tumor von der Grösse eines Tennisballs wird ihm aus dem Gesicht entfernt. Als Chefarzt Dr. Gary Graham ruhig und konzentriert das Skalpell ansetzt, könnte man die besondere Umgebung fast vergessen. Einzig die Bullaugen, die den Blick auf den Atlantischen Ozean freigeben, erinnern daran, dass der chirurgische Eingriff auf einem Schiff stattfindet.

Es ist kein gewöhnliches Schiff, das von März bis Ende Juni im Hafen von Lomé im westafrikanischen Togo Halt macht. Es ist die «Anastasis», das grösste private Spitalschiff der Welt. 159 Meter lang, neun Decks hoch, ausgerüstet mit drei Operationssälen, 40 Spitalbetten, seit kurzem selbst mit einem Computertomographen, um bei Tumoren eine genauere Diagnose stellen zu können. Und bevölkert von einer 400-köpfigen Besatzung.

Für den Betrieb von Schiff und Spital würde ein kleinerer Bestand genügen. Doch die «Anastasis», zu Deutsch «Auferstehung», steht noch in anderen, biblischen Diensten. Der 1953 in Triest, auf dem Höhepunkt der italienischen Schiffbaukunst, erschaffene Kreuzfahrt-Dampfer ist zum Missionsschiff umfunktioniert worden. Der elegante Rumpf und die edlen Holzverkleidungen erinnern noch an die alte Klasse, doch statt Nobelgäste durchs Mittelmeer zu fahren, hat die «Anastasis» nun sendungsbewusste Christen an Bord, die den Afrikanern das Evangelium näher bringen wollen.

Don Stephens, 57, der Gründer von «Mercy Ships», nennt diese Doppelstrategie «die zwei Seiten des Evangeliums». Praktische medizinische Hilfe und religiöse Aufbauarbeit vereinen: Mit diesem Ziel hat er das christliche Hilfswerk 1978 gegründet. Zehn Jahre lang lebte Stephens mit seiner Familie auf dem Spitalschiff, nun lenkt er das Unternehmen von Texas aus. Über 2000 Freiwillige zählt Mercy Ships, allein im Hauptquartier in Garden Valley sind 200 Personen damit beschäftigt, die christliche Botschaft in die Welt zu tragen.

Wie die Wunder Jesu
Der Süden der USA ist ein guter Boden für religiöses Engagement. Das demonstriert auch US-Präsident George Bush, selbst ein grosser Anhänger der Spitalschiffe. Mercy Ships sei «ein grosses Beispiel für den grosszügigen Geist der USA», hat er einmal an einer Veranstaltung der Missionare gesagt.

Gesundheit gegen Glauben zu liefern, ist ein Wachstumsgeschäft. Neben dem Flaggschiff «Anastasis» liegt eine schwimmende Klinik in der Karibik, eine dritte wird in der Werft im britischen Newcastle für ihren Einsatz hergerichtet. Der Software-Gigant Microsoft, der Shampoo-Hersteller Johnson & Johnson und andere Multis unterstützen das Nonprofit-Unternehmen, nebst Stiftungen und Privatpersonen, die Geld oder direkt Medikamente und Lebensmittel beisteuern. Pro Jahr wollen die Missionare eine Million Menschen mit dem Evangelium erreichen, seit der Gründung haben die freiwilligen Ärzte über 12 000 Operationen durchgeführt.

Behandelt werden vor allem grauer Star, orthopädische Missbildungen, Hasenscharten und Tumore im Gesicht. Womit die Missionare Barmherzigkeit, englisch Mercy, in wahrlich biblischem Sinn pflegen. «Die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Stummen reden», fasst der Gründer Stephens den Erfolg des medizinischen Konzepts zusammen. Sozusagen eine Neuauflage der im Neuen Testament beschriebenen Wunder Jesu.

In den Genuss der Gratis-Behandlung können alle kommen, unabhängig von ihrer Glaubensrichtung. Ein Glück für Essifou Aliou, denn er ist Muslim. Als er im Radio von der Ankunft des Schiffs gehört hatte, machte er sich auf, damit sein entstelltes Gesicht hergerichtet wird, damit er wieder ohne Schmerzen sprechen und atmen kann. Mit Aliou strömten 5000 Menschen nach Lomé in der Hoffnung, von ihren Leiden befreit zu werden. Die anstürmende Masse musste in einem Fussballstadion kanalisiert werden, hier wählten die Ärzte der «Anastasis» jene 750 aus, die während des viermonatigen Aufenthalts in Togo operiert werden sollten. «Ich musste mich schon etwas vorkämpfen, damit ich aufgenommen wurde», erinnert sich Aliou.

Schwimmendes Amerika
Mercy Ships hat sich auf Operationen spezialisiert, die das Leben der Betroffenen verändern. Lebensrettende Eingriffe bilden die Ausnahme, weder typische Tropenkrankheiten noch bösartige Tumore werden behandelt. «Wir beschränken uns auf Dinge, die keine wochenlange Nachbehandlung brauchen», sagt Chefarzt Dr. Parker. Zu tun gibt es auch so genug. Seit 1987 ist Parker auf dem Schiff und hat in dieser Zeit Hunderte von Hasenscharten und Tumore operiert.

Hilfe zur Selbsthilfe, das grosse Credo der Entwicklungsarbeit, gilt bei Mercy Ships nur beschränkt. Zwar lässt sich Dr. Parker wenn möglich von einem lokalen Chirurgen assistieren. Verlässt die «Anastasis» aber den Hafen von Lomé, fehlt im Land selbst die nötige Infrastruktur. Ganz zu schweigen vom Geld, das die Betroffenen für die Behandlung selbst aufwenden müssten. Die Gesundheit hat für die Regierung in Togo, seit 1967 eine Militärdiktatur, einen geringen Stellenwert; aus dem kleinen Staatshaushalt erhält die Armee doppelt so viel wie das Gesundheitswesen, die Lebenserwartung beträgt gerade 52 Jahre.

Aus der Politik halten sich die Missionare heraus. Sie lassen sich von der herrschenden Armut leiten. Und die ist gross an der Küste Westafrikas, in Gambia, Sierra Leone, Côte d’Ivoire, in Ghana oder Benin, wo die «Anastasis» in den letzten Jahren angelegt hat. Auch im Hafen hält die Besatzung Distanz. Das Boot verkörpert eine eigene, amerikanische Welt. Auch wenn 38 Nationen darauf vertreten sind, Englisch ist die Bordsprache, der Dollar das Zahlungsmittel. Der Moralkodex ist rigide: kein Alkohol, keine Zigaretten, kein Sex vor der Ehe. Das Schiff selbst funktioniert völlig autonom, weder Internetcafé noch Coiffeursalon fehlen, für die 47 Kinder an Bord gibt’s einen Kindergarten und eine Schule. Die Lebensmittel werden per Container aus Europa und den USA angeliefert, einzig frisches Gemüse, Früchte und Wasser werden lokal bezogen.

Chirurgie für den Glauben
Doch um das Evangelium zu verbreiten, verlassen die Missionare das klimatisierte Schiff. Zum Beispiel Peggy Cummings aus Colorado. Es ist kein einfacher Job, der die 61-Jährige in die Tropenhitze führt. Sie besucht Aids- Patientinnen in den Spitälern von Lomé, stimmt Lieder wie «Yes, Jesus loves me» an, zu welchen die todkranken Frauen langsam ihre Lippen bewegen. Den knochendünnen Aids-Opfern, denen medizinisch nicht mehr geholfen werden kann, will Cummings Trost spenden. «Wir wollen den Kranken die Angst vor dem Tod nehmen und ihnen zeigen, dass Gott sie liebt.»

Das religiöse Sendungsbewusstsein muss gross sein, um sich solchen Strapazen auszusetzen. Seit sieben Jahren arbeitet Cummings auf dem Schiff, ohne Entschädigung, sie bezahlt im Gegenteil jährlich 3000 Dollar. Ob Chirurg oder Krankenpfleger, ob Küchenhilfe oder Captain, alle kommen für ihren Aufenthalt selbst auf. Wer nicht auf Erspartes zurückgreifen kann, lässt sich von Freunden und Kirchen aus der Heimatgemeinde unterstützen.

Ihre Motivation finden die Freiwilligen in der Bibel. «Jesus sagt: Liebe Gott und deine Nächsten. Angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt heisst das für uns, den Armen und Bedürftigen zu helfen», sagt Gary Graham, 50, Leiter der religiösen Teams und so etwas wie der oberste Evangeliker an Bord. Auch er ist ein Veteran, seit 16 Jahren lebt er auf dem Schiff und hat bereits in 34 Ländern der Erde die biblische Botschaft verbreitet. Ausser Mormonen und Scientologen sind auf dem Schiff alle Christen als Freiwillige willkommen; die grossen Landeskirchen sind jedoch untervertreten, die meisten gehören Freikirchen an. «Der Islam», erzählt Gary Graham, «stösst vom Norden Afrikas nach Süden vor, das Christentum von Süden nach Norden. Hier in der Mitte treffen die Religionen aufeinander. Hier ist das Gerangel.» Was ihm nicht ungelegen kommt. Er freut sich, wenn die «Anastasis» in Gegenden anlegt, wo der christliche Glauben noch nicht fest verwurzelt ist. Ein ausgezeichneter Standort war etwa Guinea, dort sind 90 Prozent der Bevölkerung Muslime. «Es ist gut», meint Graham, «wenn Muslime das Christentum in Aktion sehen.» Um den Eindruck zu untermauern, verteilt er grosszügig Bibeln, allein in Lomé hat er schon über 2000 Stück verschenkt.

Für die missionarische Tätigkeit ist das Spitalschiff tatsächlich ein ideales Vehikel. «Mit Mercy Ships haben wir Zugang zu Staaten, wo das Evangelium sonst nicht hinkommt», schreibt der Gründer Don Stephens in einem seiner Bücher. Die medizinische Dienstleistung dient den Christen als Türöffner. Während die Missionare im 18. oder 19. Jahrhundert noch auf die militärische Hilfe der Kolonisatoren zurückgriffen, verwenden sie heute subtilere Methoden. Gesundheit als Zeichen für die Liebe Gottes ist ein ausreichendes Argument, mit dem die Christen ihre Religion ohne viel Aufhebens nach Afrika tragen können.

Essifou Aliou, Muslim, hat das religiöse Programm auf dem Spitalschiff geduldig mitgemacht. Zu gross war seine Freude über die Entfernung des Tumors und über die Aussicht, wieder als Lastwagenfahrer arbeiten zu können. So hat er gebetet, sich auch vom Jesus- Film berieseln lassen, der täglich über den Monitor im Krankensaal flimmerte. Und die Bibel, ein Abschiedsgeschenk der Crew, hat er ebenfalls mit nach Hause genommen.