Als «Stadtfahrer» in «20 Minuten»
Überall stolpert man über Metaphern aus der Welt der Schienen. Menschen hoffen auf die richtige Bahn einzuschwenken. Sie wollen die Weichen rechtzeitig stellen oder wenigstens auf Kurs bleiben. Als würde einem nicht schon der Alltag schwerwiegende Entscheidungen abverlangen. Jeans oder Manchesterhose?, muss ich mich beim Aufstehen fragen (wenn nicht die blaue Uniform bereitsteht). Und gerate ich im Coop unversehens vor das Konfitüren-Regal, habe ich aus 56 verschiedenen Sorten die Wahl, davon allein sechsmal Bitterorangen. Wie soll ich da wissen, was gut für mich ist?
Zum Glück gibt es das Tram. Da sind die Wege vorgegeben, die Schienen verlegt, der Verlauf der Tramlinien festgelegt. Was mir das Leben einfacher macht. Und gleichzeitig vermag ich, was Fragen der Entscheidungsfindung angeht, so etwas wie Routine zu entwickeln. Denn Entscheide zu fällen, das heisst die Weichen richtig zu stellen, ist in unserem Beruf zentral. Auf der Linie 3 zwischen Albisrieden und Klusplatz sind es zum Beispiel elf Weichen. In vier Stunden Dienst komme ich so auf über 80 Entscheidungen. Zwar hilft uns die Technik, fast alle Weichen werden automatisch gestellt. Dazu ein kleiner Exkurs für die Technophilen. Das mit der Weichensteuerung geht so: Jedes Tram sendet ein Signal aus. Die Weiche erkennt am Central, ob ein Tram der Linie 3 oder 15 einfährt, und stellt nach rechts oder links. In aller Regel. Es sei denn die Technik will nicht. Dann wird der falsche Weg vorgegeben. Für uns heisst das: sofort anhalten, aussteigen und von Hand, das heisst mit dem Weicheisen, die Metallzungen in die gewünschte Richtung umlegen.
Wer nicht aufpasst und rechtzeitig anhält, fährt in die falsche Richtung. So peinlich es klingt: Das ist mir doch tatsächlich einmal selber passiert. Irgendwie, ich fuhr zur Stosszeit mit der Linie 3 ins Central, musste ich mit den Gedanken weit weg gewesen sein, da zeigte die Weiche 69 (alle haben eine Nummer, von 1 bis 399) plötzlich nach links zur ETH hoch. Dabei fährt die Linie 3 nach rechts zum Kunsthaus. Ich hatte zu spät reagiert und war einen Meter zu weit gefahren. Theoretisch hätte ich zurückfahren und die Weiche von Hand richtig stellen können. Aber die Leitstelle, der ich den Vorfall meldete, entschied anders. Ich sollte in die falsche Richtung weiterfahren. Immerhin war man rücksichtsvoll genug, den Fahrgästen die kurze Umleitung umgehend mit einer „Weichenstörung“ zu erklären. Und so fuhr ich dann eine Zusatzschleife über die ETH und Kantonsschule, um beim Kunsthaus wieder auf die richtige Strecke einzubiegen.
Das Schlimmste, das einem auf einer Weiche passieren kann, habe ich zum Glück noch nie erlebt: dass das Tram entgleist. Zeigt eine Weiche weder in die eine noch in die andere Richtung, weil etwa eine Petflasche oder ein Champagnerkorken verklemmt ist, dann droht das Tram aus den Schienen zu geraten. So wie im richtigen Leben: Wer sich an einem Punkt gar nicht entscheiden kann, etwa zwischen zwei Stellen oder zwei Menschen, riskiert aus der Bahn geworfen zu werden. Deshalb sage ich mir, lieber einmal falsch entscheiden als gar nicht. Früher oder später kommt man meist wieder auf den richtigen Weg. Zumindest mit dem Tram.